MÜNSINGEN. Seit 1 700 Jahren leben nachweislich Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland (siehe Infobox). Dieser Anlass, aus dem bundesweit gefeiert wird, ist im Münsinger Teilort Buttenhausen greifbarer und gegenwärtiger als in anderen Städten und Dörfern auf der Alb. Über 150 Jahre lang lebten in Buttenhausen Juden und Christen friedlich mit- und nebeneinander – bis 1933, als auch auf der Alb Entrechtung und Enteignung, Deportation und Ermordung jüdischer Bürger folgten. Yannik Krebs, Stadtarchivar in Münsingen und in dieser Funktion auch Leiter des jüdischen Museums in der Bernheimer’schen Realschule, hat deshalb ein umfangreiches Programm geplant: Von Juni bis November stehen – in Kooperation mit dem Evangelischen Bildungswerk Reutlingen – ein Dutzend Veranstaltungen im Kalender, die nicht nur an das Sterben, sondern vor allem auch an das Leben der Juden erinnern – religiös, kulturell und gesellschaftlich.
»Wir sprechen viel über den Holocaust, auch in Buttenhausen«, sagt Krebs, »dabei ist jüdisches Leben doch viel mehr.« Der rote Faden durchs Festjahr ist deshalb die Klezmer-Musik: Sie steht für das jüdische Lebensgefühl, für Fröhlichkeit und Trauer, zwischen denen oft nur wenige Takte liegen. Der Komponist Dmitrij Schostakowitsch hat die jüdische Musik treffend als »ein Lachen durch Tränen« beschrieben. Neben mehreren Konzerten sind historische Vorträge sowie Führungen durchs Dorf und das Museum in der Bernheimer’schen Realschule geplant. Das Gebäude ist, wie auch ein paar wenige andere, die noch stehen, ein sichtbares Zeugnis jüdischen Lebens in Buttenhausen: »Diese Häuser sind mit ihren Erkern und Türmchen alles andere als typisch für die Alb, so haben die Bauern ihre Häuser nicht gebaut«, sagt Krebs. »Die jüdischen Bürger haben das Leben im Ort nachhaltig geprägt.«
Es war der Freiherr Philipp von Liebenstein, der es zunächst 25 jüdischen Familien Ende des 18. Jahrhunderts ermöglichte, sich in Buttenhausen niederzulassen. Mit seinem 1787 verfassten Judenschutzbrief legitimierte der damalige Besitzer des Dorfs die Ansiedlung von Juden, die bis dahin in Württemberg grundsätzlich verboten gewesen war. »Es war die Zeit der Aufklärung, der Freiherr gilt in der Forschung heute auch als fortschrittlich und wohlwollend«, erläutert Krebs die Beweggründe Liebensteins, zu denen aber auch ein sehr pragmatischer Aspekt gehört haben mag: Wirtschaftlich war es ein kluger Schachzug, den jüdischen Familien, darunter viele Händler und auch Handwerker, ein Leben in Buttenhausen zu ermöglichen. Die Dorfgemeinschaft profitierte davon, der Freiherr auch, denn: »Die Ansiedlung war letztlich auch mit einer Steuerlast verbunden.« Um 1870 waren 442 von 834 Einwohnern – etwas mehr als die Hälfte – jüdisch, Buttenhausen hatte sich zu einem Handelszentrum entwickelt. Ganzseitige Zeitungsinserate zeugen von der Bedeutung der jüdischen Kaufleute, deren Geschäftstätigkeit weit über die Grenzen des Dorfs hinaus reichte.
Zunächst mussten die Juden räumlich noch für sich bleiben: Sie ließen sich in der »Judengasse«, der heutigen Mühlsteige, nieder, wo heute noch der jüdische Friedhof zu finden ist. Auch die Synagoge befand sich dort im höher gelegenen Teil des Dorfs. Von ihr ist heute nichts mehr zu sehen, sie wurde in der Reichspogromnacht von Nationalsozialisten niedergebrannt. »Im Laufe des 19. Jahrhunderts hatte sich die Situation der Juden immer weiter verbessert – nicht nur in Buttenhausen, sondern in ganz Württemberg«, berichtet Krebs. Auch die Bernheimer’sche Realschule mitten im Ort stammt aus dieser Zeit.
Klezmer und Kalligrafie
Einblicke in das Zusammenleben der Menschen im jüdisch-christlichen Buttenhausen über 150 Jahre hinweg gibt Eberhard Zacher am Sonntag, 27. Juni, um 13.30 Uhr in der Bernheimer’schen Realschule. Wer seinen Vortrag hören möchte, muss laut aktueller Corona-Verordnung, die noch bis Ende Juni gilt, eines der »drei Gs« erfüllen – also geimpft, genesen oder getestet sein und das auch nachweisen können. Die Veranstaltungsreihe findet am Sonntag, 4. Juli, ihre Fortsetzung – dann mit einem Konzert: Die Sängerin Katalin Horvath und ihr Klezmer-Gypsy-Trio spielen ab 15 Uhr im Park der Realschule, bei schlechtem Wetter in der Münsinger Zehntscheuer. Die Musiker verbinden den Klang der alten osteuropäischen Klezmer-Kapellen mit dem Klang der osteuropäischen Roma.
Eine Woche später, am 11. Juli, wird um 13 Uhr die Ausstellung »1 700 Jahre Christen und Juden in Deutschland – zwischen Vergegnung und Begegnung« eröffnet. Der Sportverein VfR Buttenhausen bietet an diesem Tag – wie auch beim Park-Konzert von Katalin Horvath – Kaffee und Kuchen an. Das Museum ist bis 17 Uhr bei freiem Eintritt geöffnet. Um 15 Uhr besteht an diesem Tag zudem die Gelegenheit, sich von Eberhard Zacher auf den Spuren jüdischen Lebens durch den Ort führen zu lassen.
Begleitete Museumsbesuche bietet Martin Pöt Stoldt am Sonntag, 18. Juli, an: Um 13.30, 14.30 und 15.30 Uhr zeigt er Interessierten die Ausstellung, die sich in fünf Räumen verschiedenen Aspekten des jüdischen Lebens in Buttenhausen widmet. Das 2013 neu gestaltete Museum thematisiert unter anderem die Ansiedlung der ersten Familien, das jüdisch-christliche Zusammenleben und die jüdischen Impulse auf das politische und kulturelle Geschehen im Ort sowie auf das Gewerbe und das Schulwesen. Auch die Entwicklungen in nationalsozialistischer Zeit, die die jüdische Gemeinde auslöschten, werden dargelegt. Der Abend klingt mit einem Konzert aus: Das Ensemble Jontef (zu deutsch: Festtag) spielt in der Michaelskirche in Buttenhausen ab 17 Uhr Klezmer-Musik.
Nach einer Sommer-Pause geht es am europäischen Tag der jüdischen Kultur am Sonntag, 5. September, um 13 Uhr mit einem Vortrag von Martin Pöt Stoldt über »Gebete und Gebote im Judentum« in der Bernheimer’schen Realschule weiter. Das Museum hat bei freiem Eintritt von 13 bis 17 Uhr geöffnet. Der Referent will tiefere Einblicke in den jüdischen Alltag und die Rolle, die Gebote und Gebete darin spielen, geben. Er schreibt in seiner Ankündigung: »Die Tora mit ihren Geboten ist das erste Bürgerliche Gesetzbuch und Strafgesetzbuch der Weltgeschichte.«
Am selben Nachmittag folgt um 17 Uhr das Konzert »Anatevka im Lautertal« mit dem Ensemble »Klezmerfantasien« in der Münsinger Martinskirche in Kooperation mit deren Förderverein. Der Eintritt ist frei, Spenden kommen dem Erhalt der Kirche zugute. Wie sich die Musik in den ländlichen Gemeinden Württembergs angehört hat, in denen Christen und Juden zusammenlebten, lässt sich nur noch schwer rekonstruieren. Bei Hochzeiten spielten die gleichen Blaskapellen, man sang im selben Gesangverein. Aus Buttenhausen wurde immer wieder von vier musikalischen Schwestern berichtet, die »vier Jahreszeiten« genannt, die ein Ausflugslokal betrieben. Die Veranstaltungen dort waren legendär. In der Syna-goge intonierte ein Vorsänger die alten traditionellen Gebete. Einen Eindruck davon, wie diese liturgische Musik klang, vermitteln Aufnahmen des Laupheimer Kantors Emil Elias Dworzan und seinem Harmoniumspieler. Eines dieser Stücke hat das Ensemble »Klezmerfantasien« ausgegraben, außerdem stehen weitere liturgische Stücke, jiddische Lieder und Klezmer-Stücke auf dem Programm.
Wie jüdisches Leben in der Gegenwart aussieht, schildert ein Vorstandsmitglied der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg (RGW) am Donnerstag, 9. September, in der Münsinger Zehntscheuer. In Württemberg leben heute fast 3 000 Menschen, die sich zum Judentum bekennen, die meisten davon in Stuttgart, der größten jüdischen Gemeinde in Baden-Württemberg. Eine Einführung in das Geheimnis der hebräischen Buchstaben gibt der auf der Alb lebende Künstler Tobias Christ. Am Sonntag, 19. September, und am Sonntag, 17. Oktober, bietet er jeweils um 13.30 Uhr einen etwa eineinhalbstündigen Kalligrafie-Workshop an. Gemeinsam wird versucht, jedes einzelne der 22 Zeichen kennenzulernen. Zu jedem Kurs können maximal 15 Teilnehmer zugelassen werden, deshalb ist eine Anmeldung bei Yannik Krebs im Stadtarchiv erforderlich.
Lesung mit Musik
Musik ist erneut am Samstag, 9. Oktober, ab 19 Uhr in der Münsinger Zehntscheuer zu hören. Das Duo »Tangoyim« nimmt seine Zuhörer mit auf eine Reise durch Osteuropa bis hin zur versunkenen Welt des jüdischen Shtetl und weiter ins Amerika der 1920er-Jahre. Mit Geige, Bratsche, Klarinette und Akkordeon erzählen die Musiker von Freud und Leid, von vergangener Liebe, einem goldenen Pfau oder von einer jüdischen Hochzeit.
Das Jubiläumsjahr endet am Donnerstag, 18. November, mit einer Lesung von Uwe Seltmann, musikalisch begleitet von der Gruppe »Oygnblik«. »Es brennt« hat Seltmann die Geschichte von Mordechai Gebirtig überschrieben. Der oft als Vater des jiddischen Liedes bezeichnete Dichter wurde 1942 im Krakauer Getto von Nationalsozialisten ermordet. Rund 170 seiner Lieder und Gedichte haben die Shoah überlebt und werden heute weltweit von namhaften Künstlern interpretiert. Sein bekanntestes Lied »S’brent« war während der NS-Zeit die inoffizielle Hymne jüdischer Widerstandskämpfer und wird heute in Israel zu jedem Holocaust-Gedenktag angestimmt. Seltmann hat die erste deutschsprachige Biografie über Gebirtig verfasst. Das Duo »Oygnblik« trägt Stücke aus dem Werk des Dichters vor.
Sollten aufgrund der Corona-Pandemie Einschränkungen bestehen, werden die Veranstaltungen verlegt oder abgesagt. Eine Anmeldung wird grundsätzlich empfohlen. (GEA)
07381 182115
DIE HISTORISCHE QUELLE
Am 11. Dezember 321 erlässt der römische Kaiser Konstantin ein Gesetz: Es legt fest, dass Juden städtische Ämter in der Kurie, der Stadtverwaltung Kölns, bekleiden dürfen und sollen. Dieses Edikt belegt eindeutig, dass jüdische Gemeinden bereits seit der Spätantike wichtiger integrativer Bestandteil der europäischen Kultur sind. Eine frühmittelalterliche Handschrift dieses Dokuments befindet sich heute im Vatikan und ist Zeugnis der mehr als 1 700 Jahre alten jüdischen Geschichte in Deutschland und Europa. (pm)