PFULLINGEN. »Für uns im Gesundheitsamt ist das eine nie erlebte Situation«, erklärt dessen Leiter Dr. Gottfried Roller, »wir sind Tag und Nacht im Einsatz.« Angesichts der Herausforderungen durch die Coronakrise stehe der gesamte medizinische Bereich vor großen Problemen. Roller geht deshalb davon aus, dass in absehbarer Zeit die Bestimmungen für das »Kontaktpersonen-Management« – sprich: die Auswahl der Menschen, die auf das Coronavirus getestet werden – gelockert werden. »Wir werden diese umfangreichen Ermittlungen der Kontaktpersonen nicht mehr aufrechterhalten können«, sagt er und verweist auf die Stadt Stuttgart, wo schon jetzt nicht mehr in allen begründeten Verdachtsfällen Abstriche gemacht werden. Nur noch besonders gefährdete Personen würden getestet. Grund dafür sei – neben der Überlastung des medizinischen Personals – auch, dass die Materialien für den Test ausgehen.
Bisher gilt: Wer in einem Risikogebiet Urlaub gemacht hat oder Kontakt zu einer mit dem Coronavirus infizierten Person hatte und grippeähnliche Symptome entwickelt hat, der zählt zu den »begründeten Verdachtsfällen« und wird auf das Virus getestet. Doch wer entscheidet bislang, ob ein Reiserückkehrer zum »Verdachtsfall« wird? Und wie kann es sein, dass eine getestete Person über ihr Ergebnis eine Woche lang im Unklaren gelassen wird? Diese Fragen, die sich aus den Erlebnissen von drei GEA-Lesern ergeben, haben Roller und Christine Schuster, Pressesprecherin des Landratsamts Reutlingen, dem GEA beantwortet.
Beispiel 1
Der Skiurlaub in den Faschingsferien in Südtirol hatte für eine Pfullinger Familie ungeahnte Folgen. Einige Tage, nachdem sie zurückgekehrt waren, wurde Südtirol zum Risikogebiet erklärt. Die Familie begab sich freiwillig für zwei Wochen in die angeratene Quarantäne. Weil die 49-jährige Frau dann eine Erkältung bekam, auch Halsschmerzen und Husten hatte – Symptome, wie sie auch bei einer Infektion mit dem Coronavirus vorkommen –, rief sie beim eigens für solche Fälle eingerichteten Bürgertelefon des Landratsamts an, um sich zu erkundigen, wann und wo sie sich testen lassen kann. Mehrfach wurde sie dort abgewiesen mit dem Hinweis, dass sie ja nicht schwer erkrankt sei.
Als sich dann aber auch beim Ehemann Symptome einstellten, rief die Pfullingerin erneut beim Bürgertelefon an. Diesmal teilte die Mitarbeiterin am anderen Ende der Leitung ihre Besorgnis: »Natürlich werden sie gestestet!« Am folgenden Tag fuhr das Arztmobil tatsächlich vor, beim Ehepaar wurden Abstriche gemacht.
»Es ist traurig, dass gar nicht mehr nach den getesteten Personen geschaut wird«
Nach zwei Tagen erhielt der Ehemann den erlösenden Anruf: Sein Test war negativ. Die 49-Jährige aber wartete weiter auf ihr Ergebnis. Mehrfach versuchte sie in den folgenden Tagen herauszufinden, warum es noch nicht vorlag. Mehrere Anrufe beim Bürgertelefon und im Gesundheitsamt – inzwischen war wieder Wochenende – brachten sie nicht weiter: Niemand wusste Bescheid. Erst am Montagmorgen hatte sie beim Bürgertelefon einen Mitarbeiter an der Strippe, der ihren Namen auf eine Rückrufliste setzte. Nach sechs für die Frau zermürbenden Tagen lag auch ihr Testergebnis vor: negativ. »Es ist traurig, dass hier gar nicht mehr nach den getesteten Personen geschaut wird«, sagt sie, »es könnte ihnen ja in der Zwischenzeit viel schlechter gehen!« Sie fühle sich von den zuständigen Behörden allein gelassen. »Ich habe das Gefühl, dass man hier auf regionaler Ebene überhaupt nicht vorbereitet war.«
Beispiel 2
Hingehalten wurde auch eine junge Mutter aus einer Albgemeinde, die mit ihrer Familie aus dem Skiurlaub aus Südtirol zurückgekommen war, klassische Corono-Symptome im Gepäck. »Wenn wir keine Verdachtsfälle sind, wer dann?« Die Tochter war bereits im Urlaub krank geworden, hatte Husten, Schnupfen, Fieber, Schüttelfrost und Gliederschmerzen.
Wieder in der Heimat ereilten auch die Frau die gleichen Symptome. Ihr Hausarzt wies sie an, sich beim Gesundheitsamt zu melden. Der Anruf beim Bürgertelefon verlief überraschend: Es werde wohl ein grippaler Infekt sein, vermutete das Gegenüber, ein Test sei nicht notwendig.
Beruhigt war die Frau nicht: In ihrem Urlaubsort waren bereits Schulen und Kindergärten geschlossen worden, die Zahl der Infizierten war stetig gestiegen. Die Familie auf das Coronavirus zu testen, sei nicht nötig, hieß es aber auch beim zweiten Anruf beim Bürgertelefon. Die Begründung: Südtirol war noch kein vom Robert-Koch-Institut ausgewiesenes Risikogebiet, als die Familie dort urlaubte.
Als wenige Tage später auch der Ehemann erkrankte und Südtirol offiziell zum Risikogebiet wurde, griff die Frau ein drittes Mal zum Hörer. Dieses Mal mit Erfolg, zumindest kurzfristig. Das Arztmobil werde vorbeikommen, lautete die Ansage – die wenig später wieder zurückgenommen wurde. »Da versteht man die Welt nicht mehr«, sagt die Frau. Inzwischen war eine Woche seit der Rückkehr vergangen. Der Mann war arbeiten, die Kleine in die Schule und die Mutter einkaufen gegangen. Wenngleich nicht mit reinem Gewissen: »Man hat einfach ein saublödes Gefühl.«
Vor wenigen Tagen dann kam – nach einer weiteren Kontaktaufnahme – endlich der ersehnte Rückruf: Die Familie darf sich im Corona-Abstrichzentrum in Münsingen testen lassen. Das Ergebnis soll in wenigen Tagen feststehen.
Beispiel 3
Testen lassen wollte sich auch ein Pfullinger, der am Mittwoch vergangener Woche aus beruflichen Gründen in Tübingen an einem Meeting teilgenommen hatte, bei dem auch eine später positiv getestete Person dabei war. Vom Hausarzt an das Gesundheitsamt verwiesen, wählte er am Montag und Dienstag viele Male die Nummer des Bürgertelefons, blieb x-mal in der Warteschleife hängen und kam kein einziges Mal durch. Von seinem Chef erfuhr er vom »Corona-Telefon« in Tübingen und hatte dort prompt mehr Glück. Dort erhielt er die Information, solange er keine Symptome habe, solle er für 14 Tage in freiwillige Quarantäne gehen.
Als die Frau des 32-Jährigen dann aber Fieber und Halskratzen bekam und sich unwohl fühlte, sorgte er sich, das Coronavirus vielleicht doch aus dem Meeting mitgebracht zu haben. Wieder wählte er viele Male die Bürgertelefonnummer: ohne Erfolg. »Ich fühle mich da schon sehr allein gelassen«, betont er gegenüber dem GEA.
Was das Landratsamt dazu sagt
Auf Nachfrage des GEA, wie es zu einer solchen Verzögerung beim Testergebnis kommen könne, wie im ersten Fall beschrieben, fragte Christine Schuster, Pressesprecherin des Landratsamts, beim Gesundheitsamt nach. Vermutlich sei der Anstrich der Pfullingerin in eine Proben-Charge geraten, die einfach länger liegen geblieben sei, erklärt sie.
Weil es aber immer mehr »begründete Verdachtsfälle« gibt und mehr Abstriche genommen werden, kann es inzwischen bis zu fünf Tage dauern, bis das Ergebnis vorliegt, berichtet sie. Das liegt vor allem an den begrenzten Laborkapazitäten: Bisher werden die Abstriche am Landesgesundheitsamt in Stuttgart oder in einem von drei privaten Laboren im Land untersucht. »Wir sind mit weiteren Laboren im Gespräch und bestrebt, die Kapazität auszuweiten«, erklärt sie und fügt gleich hinzu: »Alle anderen Landkreise stehen jetzt natürlich vor dem gleichen Problem.«
Ob – wie im Beispiel 2 – ein Anrufer tatsächlich in die Kategorie »begründeter Verdachtsfall« gehört und Anspruch auf einen Test hat, entscheiden nach den geltenden Maßgaben – siehe Anfang des Artikels – die Mitarbeiter am Bürgertelefon. »Sie sind auf diese Aufgabe vorbereitet worden«, betont Christine Schuster. In Zweifelsfällen stehen ihnen Ärzte des Gesundheitsamts als Berater zur Verfügung. Tatsächlich, das machte sie deutlich, zählen auch alle, die in Südtirol Ferien gemacht haben, bevor es zum Risikogebiet erklärt wurde, und dann Symptome bekamen, dazu. Schuster empfiehlt, zunächst – am Telefon – mit dem Hausarzt zu sprechen: »Am Bürgertelefon gibt es keine medizinische Beratung.«
»Mit einem solchen Ansturm haben wir nicht gerechnet«
Dr. Gottfried Roller, Leiter des Kreisgesundheitsamts, räumt ein, dass es für die Mitarbeiter am Bürgertelefon zwar eine "Schnellbleiche" gegeben habe, aber Fehler ließen sich niemals gänzlich ausschließen. Zumal alle, die dort eingesetzt werden, stark unter Druck stünden. "Anfang dieser Woche sind wir von der Anrufer-Welle komplett überrollt worden", betont er, obwohl die Kapazität bereits auf zehn Leute pro Schicht (bei zwei Schichten am Tag) aufgestockt worden sei. Mehr als 550 Nachfragen habe es pro Tag gegeben. »Mit einem solchen Ansturm haben wir nicht gerechnet«, erklärt Roller. Und er macht deutlich, dass dort viele Anfragen auflaufen, die eigentlich der Hausarzt beantworten könnte, und Bürger auch ihren Frust am Telefon abladen würden.
Roller bedauert, dass der junge Pfullinger im Beispiel 3 mit seinen Sorgen nicht bis zu einer leibhaftigen Person am Bürgertelefon durchdringen konnte. Doch er stellt auch eindeutig fest: Anspruch auf einen Test hätte der 32-Jährige erst, wenn er selbst Symptome wie Husten oder Fieber bekäme. Allein die Tatsache, dass er sich mit einer infizierten Person in einem Raum befunden habe, reiche nicht aus, um ihn zum »begründeten Verdachtsfall« zu erklären. Allerdings müsse er zwei Wochen Quarantäne einhalten. Auch für seine Frau gelte, dass sie – trotz Symptomen – erst als Verdachtsfall gelte, wenn ihr Ehemann positiv gestestet worden sei.
Für die niedergelassenen Ärzte im Landkreis bietet das Landratsamt heute Abend einen Livestream an, um sie auf den aktuellen Stand zu bringen. Vor zwei Wochen seien alle in einem Schreiben über den richtigen Umgang mit Verdachtsfällen informiert worden. »Bei manchen gibt es dennoch Aufklärungsbedarf«, hat Roller festgestellt. Über einen speziellen Link haben die Ärzte die Möglichkeit, Fragen zu stellen, »damit ein direkter Austausch entstehen kann«. Geklärt werden soll dabei vor allem auch die Frage: »Wo gibt es Nachbesserungsbedarf?« (GEA)