HAMBURG. »Die politischen Aussagen von heute sind morgen schon Makulatur«, stellt Dieter Semmelmann nüchtern, doch hörbar genervt fest. »Eine schlimmere Negativwerbung wie aktuell können wir nicht bekommen. Das ist sehr frustrierend und macht uns mürbe.«
So wie dem Gründer von Semmel Concerts geht es fast allen in der Live-Entertainment-Branche: Seit bald zwei Corona-Jahren hangeln sich die Tour-Produzenten von Musical-, Show- und Revue-Produktionen von einem Ersatztermin zur nächsten Verschiebung oder gar Absage.
Umsatzeinbrüche von bis zu 95 Prozent, Einbußen von rund 100 Millionen Euro wie bei dem bundesweiten Veranstalter Karsten Jahnke sind eher die Regel als die Ausnahme. Eine mittel- oder gar langfristige Planungsperspektive bleibt weiterhin ein frommer Wunsch.
»Auch die jüngste Bund-Länder-Konferenz hat wieder keine Klarheit gegeben, weil die Beschlüsse nur auf 14 Tage gefasst worden sind und man weiterhin auf Sicht fährt«, kritisiert denn auch Ralf Kokemüller. Was für den Vorstandschef der Mehr-BB Entertainment, der seit mehr als zwei Jahrzehnten Großmusicals wie »Thriller« oder »Bodyguard« produziert und auf Tourneen durch Deutschland und Europa schickt, bedeutet: Die Planungen von heute müssen nicht nur den unterschiedlichen Auslastungs- und Zugangsbeschränkungen der jeweiligen Bundesländer angepasst werden, sondern können in zwei Wochen bereits hinfällig sein.
Devise: Verluste minimieren
Wie nun im Fall der für Januar und Februar abgesagten »Thriller«-Gastspiele, darunter auch der Termin am 4. Februar in Stuttgart. Die Folge: Ein Minus in der Kasse. »Bei Veranstaltungsabsagen übernimmt der Bund zwar einen Großteil der ausgefallenen Kosten, doch unter dem Strich bleiben zehn Prozent als Verlust bei uns selbst hängen«, so Kokemüller.
War es bis 2020 noch möglich gewesen, Musical-Produktionen gegen pandemiebedingte Absagen zu versichern – was Mehr-BB Entertainment vor Millionenschäden bewahrte – bietet inzwischen kein Versicherer mehr solche Policen an. Stattdessen bleibt nur der vom Bund aufgelegte, 2,5 Milliarden Euro schwere Sonderfonds für Kulturveranstaltungen – samt des Risikos, am Ende draufzuzahlen.
»Geld zu verdienen, ist seit zwei Jahren fast nicht mehr möglich«, konstatiert denn auch Semmelmann. »Wir versuchen, keine Verluste zu machen, und wollen vor allem die Veranstaltungsbranche mit all ihren Mitwirkenden von Künstlern bis zu Bühnentechnikern am Laufen halten.« Was die zusätzliche Herausforderung mit sich bringt, die vielfältigen Hygiene- und Infektionsschutzmaßnahmen für jede Spielstätte neu anpassen zu müssen: »Naheliegende Posten wie weiteres Personal, Stationen für Desinfektionsmittel, zusätzliche Absperrungen oder Wegeleit- und Informationssysteme sind dabei nur die Spitze des Eisbergs«, erläutert Folkert Koopmans, Geschäftsführer von FKP Scorpio, den zusätzlichen Aufwand. All das bringt zusätzliche Kosten mit sich.
Dabei war die Veranstaltungsbranche bis 2020 der sechstgrößte Wirtschaftszweig Deutschlands mit 1,5 Millionen Beschäftigten und einem Umsatz von fast 130 Milliarden Euro. Doch angesichts der anhaltend ungewissen Zukunft haben sich gerade im Dienstleistungsbereich tätige Soloselbstständige wie Bühnentechniker oder Auf- und Abbauhelfer zunehmend sicherere Jobs in Festanstellung gesucht – was die ohnehin schon gebeutelten Veranstalter nun noch vor weitere (Personal-)Probleme stellt.
Düstere Stimmung in der Branche
Kein Wunder, dass sich bereits im letzten Sommer rund 70 Prozent der Unternehmen in ihrer Existenz bedroht fühlten und im vierten Quartal dann auch der Geschäftsklima-Index des Ifo-Instituts für den Sektor auf bis zu minus 26 einbrach: Der düsterste Wert neben der Reise- und Tourismusbranche – im Schnitt hatte die deutsche Wirtschaft sich über alle Zweige hinweg bei plus 11 gesehen.
Dennoch sind Veranstalter wie Mehr-BB Entertainment nicht in Schockstarre verfallen, haben vielmehr seit dem Herbst den Neustart mit verschiedenen Tourneen gewagt: »Ob unser mutiger ›Restart‹ auch belohnt wird, muss sich in der Summe noch zeigen«, räumt Kokemüller ein. In Frankfurt etwa musste das fünftägige Gastspiel der 1920er-Jahre-Revue »Berlin Berlin« wegen mehrerer positiver Corona-Testungen im Ensemble abgesagt werden. Auch ein geplantes Gastspiel in Stuttgart wurde abgesagt – bei maximal 500 Besuchern im Saal, so zuletzt das Limit im Land, trägt sich die Show nicht.
Das Publikumsinteresse ist jedenfalls da: 44 Aufführungen des Musicals »Die Schöne und das Biest« lockten Ende 2021 mehr als 40 000 Besucher in die Theater in Berlin, Bremen und Köln – mehr waren aufgrund der politischen Kapazitätsbeschränkungen nicht möglich. »Dank unserer Hygiene- und Vorsichtsmaßnahmen hat es nicht einen einzigen Corona-Fall gegeben«, beteuert Kokemüller.
Unkalkulierbare Rechnung
Was sein Kollege nur bestätigen kann: »Die Menschen nehmen alle zusätzlichen Kontrollen bereitwillig in Kauf, um endlich einmal wieder etwas Besonderes zu erleben«, sagt Semmelmann. »In Berlin hatten wir kurz vor Weihnachten beim Roncalli-Weihnachtscircus am Ende mehr als 40 000 Besucher.«
Dennoch bleiben Tour-Produktionen eine Rechnung mit unkalkulierbarem Risiko politischer Entscheidungen. Wirtschaftlich darstellbar seien solche Musicals, Shows und Revuen eigentlich nur, wenn mit voller Kapazität gespielt werden könne, sagt Koopmans. Schließlich brächten die notwendigen Infektionsschutzmaßnahmen höhere Ausgaben mit sich – Branchenkenner kalkulieren mit rund 250 000 Euro bei einer mehrwöchigen Tour. Diese Ausgaben hätten zusammen mit gestiegenen Material- und Personalkosten die Gesamtkosten bis zu 30 Prozent in die Höhe getrieben. »Da wir einen Großteil der Tickets für bestimmte Veranstaltungen bereits vor der Pandemie verkauft hatten, kann es dadurch selbst bei ausverkauften Veranstaltungen zu Verlusten kommen«, erklärt Koopmans.
Kurzfristig werde spätestens ab Februar unbedingt eine Perspektive gebraucht, fordert Semmelmann. »Es kann nicht sein, dass wir nach zwei Jahren Pandemie nach wie vor Tourneen absagen müssen und keiner unserer angebotenen Lösungsvorschläge angenommen wird«, wettert er. Erste Branchenvertreter dringen auf einen »Marshall-Plan« für die Veranstaltungswirtschaft: Denn selbst wenn sich im Laufe dieses Jahres »das Thema Corona erledigt haben sollte«, wagt Kokemüller einen Blick nach vorn, »wird es noch mindestens zwei bis drei Jahre dauern, bis wir wieder ein Vor-Corona-Niveau erreicht haben«. (GEA)