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Radikal neu und gefeiert: Bernhard Langs Oper »Dora« in Stuttgart uraufgeführt

In der Stuttgarter Oper ist Bernhard Langs Oper »Dora« uraufgeführt worden. Die Titelfigur sucht Antworten auf existenzielle Sinnfragen.

Josefin Feiler als Titelfigur in der Oper »Dora«.
Josefin Feiler als Titelfigur in der Oper »Dora«. Foto: Martin Sigmund
Josefin Feiler als Titelfigur in der Oper »Dora«.
Foto: Martin Sigmund

STUTTGART. Krawumm! Am Anfang steht ein ohrenbetäubender Schlag – Impuls für ein feines Geflecht nervös ziselierter Rhythmen dreier Schlagwerke. Aus den Logen des Stuttgarter Opernhauses gibt’s erstmal eine Perkussions-Ouvertüre auf die Ohren, bevor die dreizehn Menschen, die schon vor Beginn in Reihe auf der Bühne sitzen, in Bewegung kommen. Allen voran Dora, deren Name in großen Leuchtlettern von der weißen Wand auf die Bühne herunterleuchtet. Dora legt eine etwas unheimlich anmutende Eloquenz mit merkwürdigen Fragestellungen an den Tag: »Wie ich diese Landschaft hasse. Und wie sich diese Landschaft von mir hassen lässt ... Ohne Gegenwehr.« Ja, das Schlagwerk-Intro zieht mitten ins Bewusstsein Doras, und seine Sogwirkung wird bis zum Ende der hundertminütigen Oper in Bann halten.

Die Opernproduktion »Dora«, die jetzt an der Stuttgarter Oper uraufgeführt wurde, ist ein Glücksfall kongenialer, weil sinn- und detailreich und auf musikalisch höchstem Niveau ineinandergreifender Zusammenarbeit: zwischen dem Librettisten Frank Witzel, dem Komponisten Bernhard Lang, der Regisseurin Elisabeth Stöppler, dem Ausstatter Valentin Köhler, der Dirigentin Elena Schwarz, dem kammermusikalisch besetzten Staatsorchester (ergänzt durch zwei Live-Synthesizer), den Solisten, Solistinnen sowie Neuen Vocalsolisten – den großartigen Stuttgarter Spezialisten für zeitgenössische Musik, die den sieben Figuren des Stücks als »Antiker Chor« zur Seite gestellt werden, der ganz traditionell kommentiert, fragt, erklärt, erzählt.

Genervt von der Genervten

Dora ist eine junge Frau unserer Zeit, Mitte zwanzig, die noch bei ihren Eltern, in einem Kaff mitten in ödester Industrietristesse lebt, perspektivenlos, ohne einen Plan. Die ihrem eigenen Phlegma und das der Welt entfliehen möchte, aber weder weiß, wohin, noch wer sie eigentlich ist, noch warum sie überhaupt lebt. Für sie sind Beziehungen, Jobs jedweder Art, die abgestandenen, zerbröselnden Rollenbilder weder Auswege noch wecken sie ihr Interesse. Die Eltern (Stephan Bootz und Maria Theresa Ullrich), selbst arbeitslos, sind ihr keine Hilfe, sind genervt von der Genervten. Ihre Geschwister viel zu gegensätzlich: der Bruder (Dominic Große) an monetären Dingen interessiert, an Waffen und Autos. Die empathischere Schwester (Shannon Keegan) versucht zu vermitteln.

Witzels unmittelbar verständlicher und oft witzig zugespitzter Text ist der Herzschlag der Musik und lässt ihr viel Freiheit, eigene Bezugsräume zu entfalten. Langs sehr abwechslungsreiche Musik ist vorwärtstreibend, aufwühlend, Unruhe stiftend, energiereich, frisch. Mal gleichmäßig, pochend, einfach. Mal komplex, fein gehämmert, nervös seine Netze auswerfend, mal in Dauerschleifenwiederholung festhängend. Für die Solosingenden heißt das: der ständige Wechsel zwischen Sprechen, Skandieren, Sprechgesang, Deklamieren, kantablem Singen, in allen Registern. Denn immer wieder blüht die Musik auch prall und bunt auf. Denn Lang unterfüttert den Text intellektuell mit allerlei inhaltsschwangeren Zitaten aus der Operngeschichte.

Suizidale Schlittschuhfahrt

Plötzlich wagnert, strausst und schubertet es. Sprechen Nornen-Akkorde von den verworrenen Wegen des Schicksals, wird motivisch an die widerständige Elektra erinnert. Und ganz besonders schönklangig gerät der Augenblick, als Elliott Carlton Hines in der Rolle des Berthold, der unglücklich und unsterblich Dora liebt, Schuberts Liedmelodie »Der Liebe Farbe« singt, textlich verbunden mit der quälenden, typisch romantischen Leitfrage des »Wohin?« Berthold wird seine suizidale Schlittschuhfahrt auf einem nur leidlich zugefrorenen See gelähmt und seiner Sprache beraubt überleben.

Dora sucht die Antwort auf ihre existenziellen Sinnfragen nicht in der großen weiten Welt, sondern ganz in der Nähe: auf einer Müllhalde, auf der sie ein magisches Ritual statuiert, auf das ihr der Teufel erscheine - wie der Gegenspieler Fausts ein Intellektueller, dem die schlagfertige Dora sprachlich ebenbürtig ist. Ohnehin scheint das mephistophelische Böse nicht mehr wirklich das Problem zu sein auf dieser Welt. Witzels Teufel weiß das: Das Teuflische sei letztlich immer Auftrag von einem anderen, sagt er, weswegen er im Outfit eines Beamten steckt, in Trenchcoat und Anzug mit Aktenmappe. Sein verrätseltes Geplaudere klingt derweil in Doras Ohren »wie ein Pfarrer, oder der Lehrer vor den großen Ferien, wenn er den Moralischen hat«.

Mit wütender Eindringlichkeit

Es ist grandios, wie Josefin Feiler als Dora und Marcel Beekman als Teufel ihre großen, ungeheuer schwierigen Partien meistern. Feiler, wie sie ständig und emotional aufgeputscht zwischen Sprechen, Deklamieren, Singen hin und her switcht, mit großer wütender Eindringlichkeit, saftig treffenden Hochtönen und enormer Bühnenpräsenz. Und Beekman, wie er mit ungeheuer wandlungsfähigen Stimmfarben zu begeistern weiß, am ungewöhnlichsten im hochgetunten Modus. Da mutiert seine Stimme ins Kindliche, ins Androgyne. Teuflisch gut! Auch seine komödiantische Spielfreude, an der sich jeder Schauspiel-Mephisto eine Scheibe abschneiden kann.

Regie und Ausstattung setzen auf Abstraktion. Die weiße Wand fällt und brennt virtuell, wenn Dora zur magischen Aktion schreitet. Später umrahmt ein begehbares Gerüst die Bühne, voller Symbole und Bilder: surreal anmutende Sinnesorgane, die Köpfe ersetzen, ein Elefant, eine Marienskulptur, Bildschirme zeigen sabbernde und blutende Männergesichter. Vor allem aber gibt’s Buchstabenkunst. Leuchtende Lettern, von der, wenn die weiße Wand wieder steht, nur ein A und ein O übrigbleiben, Alpha und Omega, Anfang und Ende. Der Kreis schließt sich. Teufel und Chor haben sich da längst schon ratlos und überfordert verabschiedet. Alle Fragen offen. Dora sitzt schweigend neben Berthold, aus dessen Silbenstammeln sich ein »sondern« herauskristallisiert. Krawumm! Und Stille. Bevor das Publikum »Dora« feiert. (GEA)