TÜBINGEN. Schon seit Wochen polarisieren die Vorschläge von Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer zu möglichen Exit-Strategien aus dem Shutdown. Ein Satz, den der OB am Dienstagmorgen im Sat.1-Frühstücksfernsehen gesagt hat, sorgte endgültig für einen Sturm der Entrüstung im Netz und parteiübergreifend für Empörung. »Ich sag es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären«, sagte der Grünen-Politiker am. Am Abend ruderte Palmer zurück und entschuldigte sich: »Niemals würde ich älteren oder kranken Menschen das Recht zu leben absprechen«, erklärte er gegenüber der Deutschen Presse-Agentur. Falls er sich »da missverständlich oder forsch ausgedrückt« habe, tue es ihm leid.
Aber der Reihe nach. Das Gespräch ging ganz unverfänglich los. Palmer, der aus seinem Arbeitszimmer zugeschaltet war, beantwortete zunächst Fragen zu seiner neuen Frisur, die er sich selbst mit dem Rasierer verpasst hat. Anschließen sagte er, dass der Shutdown vor fünf Wochen richtig gewesen sei. Allerdings habe jedes Medikament Nebenwirkungen, so auch der Shutdown. »Wenn die Nebenwirkungen den Nutzen übertreffen, muss man das Medikament absetzen oder schwächer dosieren. Ich bin für schwächer dosieren.«, so der Rathaus-Chef. Angesprochen auf die von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble getätigte Aussage, man dürfe nicht alles ist dem Schutz von Leben unterordnen, fiel dann der Satz, der sogar den Moderator kräftig schlucken ließ.
»Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären (...)« Diese Aussage hat es in viele Titelzeilen geschafft und wird besonders auf Twitter scharf kritisiert. Mehr als 4.000 Tweets wurden seither mit #Palmer versehen. Zynisch, menschenverachtend, kapitalistisch, volksverhetzend, sind noch die netteren Reaktionen. Dass Palmer direkt danach sagte »(…) aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen« sorgte bei der Community nicht für mildernde Umstände. Auch nicht, dass er im Anschluss auf eine Einschätzung der UNO verwies, die besagen soll, dass die Zerstörung der Weltwirtschaft und der dadurch einsetzende Armutsschock dieses Jahr eine Million Kinder zusätzlich das Leben kosten soll.
Mein Opa ist übrigens 95 geworden. Obwohl er mit ca 50 Jahren seinen ersten Schlaganfall hatte. Mit Corona wäre er vielleicht nicht einmal 80 geworden. Vor allem nicht mit #Palmer, der ihn einfach hätte sterben lassen.
— Paro (@Parocatha) April 28, 2020
Für seine Worte wurde Palmer heftig kritisiert. Der Grünen-Politiker schüre Ängste von Millionen alter Menschen, sagte Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz. Jetzt seien öffentliche Amtsträger gefordert, das Bewusstsein für Solidarität zu stärken.
Der baden-württembergische FDP-Vorsitzende Michael Theurer sagte: »Ich rate Boris Palmer dringend, sich zu entschuldigen und diese Äußerung zurückzunehmen. Er ist nicht nur wie sonst manchmal über das Ziel hinausgeschossen, sondern erheblich entgleist.«
Der Generalsekretär der Landes-CDU, Manuel Hagel, sagte, der Grünen-Politiker hetze Generationen gegeneinander auf. Dessen Aussagen strotzten vor Verachtung für die Älteren in der Gesellschaft. Der baden-württembergische SPD-Generalsekretär Sascha Binder und sein Parteikollege, der Tübinger Bundestagsabgeordnete Martin Rosemann, nannten Palmers Äußerungen »menschenverachtend«.
Harsche Kritik kam auch aus Palmers eigener Partei. Der Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn bezeichnete Palmers Position auf Twitter als »sozialdarwinistisch«. Palmer beteilige sich mit seinen kalkulierten Ausrutschern und inszenierten Tabubrüchen an einer Polarisierung und Brutalisierung der öffentlichen Debatte, distanzierte sich das Vorsitzenden-Duo der Landes-Grünen, Sandra Detzer und Oliver Hildenbrand.
Palmer erklärte am Abend: »Ich habe darauf hingewiesen, dass die Methode unseres Schutzes so schwere Wirtschaftsschäden auslöst, dass deswegen viele Kinder sterben müssen. Das will ich nicht hinnehmen und fordere einen besseren Schutz unsere Risikogruppen ohne diese Nebenwirkungen.«
Auch Reutlinger Stadträte wie Karsten Amann kritisierten Palmer für seine Aussage. In einer Umfrage auf dem Instagram-Kanal des Reutlinger General-Anzeigers fällt das Urteil jedoch nicht so deutlich aus. Auf die Frage, ob die Empörung über seine Aussagen gerechtfertigt ist, haben Stand gestern 52 Prozent der User mit »Ja« und 48 mit »Nein« gestimmt. (dpa/GEA)