TÜBINGEN. Rund jeder Zehnte in Deutschland ist von ihr betroffen, Frauen häufiger als Männer: Migräne. Ein Drittel der Erkrankten leidet zusätzlich unter vorübergehenden neurologischen Symptomen. Bei ihnen geht zum Beispiel ein Flimmern vor den Augen dem Kopfschmerz voraus, die sogenannte Migräne-Aura. Im Gehirn beobachtet man während der Auren ein typisches Aktivitätsmuster: Nachdem eine starke Erregungswelle wie ein Tsunami über die Hirnrinde gezogen ist, folgt eine große Stille.
Ein Forschungsteam aus Tübingen und München unter Federführung von Professor Tobias Freilinger ist nun laut einer Mitteilung der Uni Tübingen im Tiermodell einem der zugrunde liegenden Mechanismen auf die Spur gekommen. Bei sogenannten Migräne-Mäusen, die die Erkrankung beim Menschen nachbilden, ist eine bestimmte Art von Nervenzellen überaktiv, berichtet das Team in seiner aktuellen Publikation im Journal of Clinical Investigation.
»Wir können in diesen Tieren die neuronale Entsprechung der Migräne-Auren untersuchen: eine heftige Aktivitätswelle, gefolgt von einer Ruhephase«, sagt Neurologe und Co-Studienleiter Professor Tobias Freilinger vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung in Tübingen. Diese Migräne-Mäuse haben, wie Patientinnen und Patienten mit einer bestimmten erblichen Form der Migräne, einen Gendefekt. Der Fehler im Erbgut führt dazu, dass bestimmte Membranporen, sogenannte Natriumkanäle, stärker durchlässig werden.
Die Forscher beobachteten nun bei den Mäusen, dass Nervenzellen dadurch übermäßig aktiv wurden. »Allerdings nicht alle Neurone, sondern nur die, die Aktivität sogenannter Pyramidenzellen hemmen«, berichtet Freilinger. »Eine Überraschung für uns: Bislang hatte man überwiegend Pyramidenzellen unter Verdacht, Auslöser der Migräne-Auren zu sein«, sagt Neurowissenschaftler und Co-Studienleiter Professor Nikolaus Plesnila vom Institut für Schlaganfall- und Demenzforschung des Klinikums der Ludwig-Maximilian-Universität (LMU) in München.
Ansatz zur Behandlung
Die krankhafte Hirnaktivität bei den Mäusen besserte sich, als die Wissenschaftler ihnen eine Substanz verabreichten, welche die übermäßige Natriumkanalaktivität blockierte. »Damit haben wir einen Ansatzpunkt für die medikamentöse Behandlung von Patientinnen und Patienten – zumindest bei dieser bestimmten Form der Migräne«, schlussfolgert die Tübinger Wissenschaftlerin und Co-Erstautorin Dr. Ulrike Hedrich-Klimosch.
Migräne kann viele Auslöser haben. Oftmals spielen erbliche Faktoren eine Rolle. Die untersuchte Unterform ist weltweit sehr selten. Auren können bei verschiedenen Migräneformen vorkommen und betreffen fast ein Drittel aller Patientinnen und Patienten. Sie gehen dem Kopfschmerz voraus und dauern typischerweise zwischen 15 und 30 Minuten.
Flimmern vor den Augen
Meist handelt es sich um Sehstörungen wie etwa ein Flimmern vor den Augen, das langsam durch das Sehfeld wandert. Auren können sich aber auch als andere vorübergehende neurologische Symptome zeigen. »Unsere Erkenntnisse tragen dazu bei, den generellen Auslösemechanismus von Migräne-Auren zu entschlüsseln«, erklärt Dr. Eva Auffenberg, eine der Erstautorinnen der Studie.
Die Studie ist aus einer Zusammenarbeit der Professoren Tobias Freilinger und Holger Lerche vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH) und der Universität Tübingen sowie Martin Dichgans und Nikolaus Plesnila vom Institut für Schlaganfall- und Demenzforschung am LMU-Klinikum München entstanden. Beteiligt war außerdem eine Arbeitsgruppe aus Genua. Gefördert wurde die Arbeit ist von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung. (u)