TÜBINGEN. Lehrer vermuten bei Jungen mit eineinhalbmal höherer Wahrscheinlichkeit eine Hochbegabung als bei ebenso begabten Mädchen. Außerdem schätzen Lehrkräfte auch Kinder aus Familien mit hohem Bildungsstand eher als hochbegabt ein. Dies ist das Ergebnis einer Studie der Unis Tübingen, Maastricht und Jena, die in der Zeitschrift Gifted Child Quarterly veröffentlicht wurde.
Damit machen die Wissenschaftler auf ein besonderes Problem in der Förderung von Hochbegabten aufmerksam: Da für manche Förderprogramme Lehrkräfte die Schüler nominieren, werden einige Gruppen systematisch benachteiligt, unabhängig von deren Fähigkeiten, Motivation oder Persönlichkeit. Erst nach der Einschätzung durch die Lehrkräfte folgen weitere Tests, beispielsweise standardisierte Intelligenztests als Zugangsvoraussetzung zu bestimmten Förderprogrammen.
»Lehrkräfte sollten ihre Vorstellungen von Hochbegabung hinterfragen«, so Jessika Golle, Juniorprofessorin am Hector-Institut für Empirische Bildungsforschung in Tübingen und eine der Autorinnen der Studie.
Sie ließen sich oftmals von falschen Vorstellungen leiten oder wählten Kinder aus, von denen sie vermuteten, dass diese in den Förderprogrammen gut abschneiden könnten. Gängige Vorstellungen, wie sich Hochbegabung bei Kindern ausdrückt, sind gute Leistungen in der Schule, hohe Motivation und Kreativität sowie überdurchschnittliche soziale Fähigkeiten. Hochbegabte Kinder werden allerdings oft auch als emotional anfällig und weniger umgänglich gesehen sowie mit problematischem Verhalten in Verbindung gebracht.
Wissenschaftler befragten 1.300 Lehrkräfte
Um herauszufinden, was Lehrkräfte tatsächlich dazu bringt, ein Kind als hochbegabt einzuschätzen, werteten die Wissenschaftler Daten einer Langzeitstudie aus den Niederlanden aus. Insgesamt wurden für den Datensatz rund 27.000 Schüler aus der sechsten Klassenstufe und ihre rund 1.300 Lehrkräfte befragt. Die Kinder absolvierten einen Test, der ihre allgemeine kognitive Fähigkeit abbildete, sowie Tests, die ihre schulische Leistung erfassten, und beantworteten einen Fragebogen, der ihre Persönlichkeitsmerkmale erfasste. Gleichzeitig sollten die Lehrkräfte die Kinder in ihrem Verhalten beurteilen und die Frage beantworten, ob das Kind ihrer Meinung nach hochbegabt sei oder nicht.
Das Ergebnis: Schüler, die von ihren Lehrern als hochbegabt eingestuft wurden, zeigten ein höheres Niveau an allgemeinen kognitiven Fähigkeiten, sie zeigten höhere schulische Leistungen, waren offener und waren umgänglicher als die Schüler, die nicht als hochbegabt eingestuft wurden.
Außerdem waren die als hochbegabt beurteilten Kinder auch häufiger jünger und männlich und stammten aus Familien mit einem hohen Bildungsstand im Vergleich zu allen anderen weniger gut eingestuften Kindern.
Vorurteil: Die sind schwieriger
»Interessant war zudem, dass bei Schülern mit gleichen Fähigkeiten und gleicher Motivation, diejenigen eher als hochbegabt eingestuft wurden, deren Verhalten weniger verträglich war«, so Golle. Das zeige, dass sich hartnäckig das Stereotyp halte, Hochbegabte seien im Umgang schwieriger und sozial beeinträchtigt.
»Es ist wichtig, dass Lehrkräften diese Vorurteile bewusst werden, sonst werden Mädchen und Schüler aus Familien mit niedrigem Bildungsniveau systematisch benachteiligt«, ergänzt Trudie Schils von der Universität Maastricht. »Ihre Rolle im Auswahlprozess sollte hinterfragt werden, denn schließlich sind meistens sie es, die den Förderbedarf von Kindern frühzeitig erkennen.« (eg)