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Tübinger erforschen, wie das Gehirn der Fruchtfliege funktioniert

Team aus Tübingen und Virginia hat ein künstliches neuronales Netz entwickelt

Fruchtfliegen umschwirren im Sommer gerne den Obstkorb. Foto: Daniel Naupold/dpa
Fruchtfliegen umschwirren im Sommer gerne den Obstkorb.
Foto: Daniel Naupold/dpa

TÜBINGEN. Informationen im Gehirn werden über elektrische Signale zwischen spezialisierten Zellen, den Neuronen, übertragen. Große Netzwerke solcher Neuronen steuern Wahrnehmungen, Verhalten und Kognition. Die Wissenschaft hat lange nach Möglichkeiten gesucht, neuronale Netze im Gehirn mit Computern zu simulieren, um zu verstehen, wie sie funktionieren.

Mit neuen Erkenntnissen über die neuronalen Schaltpläne im Gehirn der Fruchtfliege und Methoden der Künstlichen Intelligenz gelang es nun Forschern, ein neuronales Netz zu knüpfen, welches zuvor kaum Vorstellbares leistet: Es sagt die Aktivität einzelner Neuronen vorher, ohne dass Messungen an einem lebenden Gehirn vorgenommen werden müssen. Die Studie von Professor Jakob Macke und Dr. Janne Lappalainen von der Universität Tübingen und Dr. Srinivas Turaga und Kollegen vom Janelia Research Campus des Howard Hughes Medical Institute in Ashburn, Virginia (USA), ist in der Fachzeitschrift Nature erschienen.

Seit Jahrzehnten messen Neurowissenschaftler neuronale Aktivitäten lebender Tiere, weil sie die Zusammenhänge zwischen Gehirnaktivität und Verhalten besser verstehen wollen. Ein Großteil des Gehirns ist nach wie vor unerforscht.

Die Teams aus Tübingen und Virginia haben nun mithilfe von Künstlicher Intelligenz und des Konnektoms, einer Karte der Neuronen und ihrer im Hirngewebe bestehenden Verbindungen, die Aktivität der Neuronen im lebenden Gehirn vorhergesagt. Indem sie lediglich Informationen aus dem Konnektom des visuellen Systems der Fruchtfliege verwenden sowie Annahmen über die Funktionen des Schaltkreises machen, haben die Forscher eine KI-Simulation erstellt, die die Aktivität jedes Neurons im Schaltkreis vorhersagen kann.

Das Forschungsteam nutzte das Konnektom, um eine detaillierte mechanistische Netzwerksimulation des visuellen Systems der Fliege zu erstellen, bei der jedes modellierte Neuron einem realen Neuron und jede modellierte Synapse einer realen Synapse im Gehirn entspricht. Obwohl sie die Dynamik der Neuronen im realen Gewebe nicht kannten, konnte das Team diese Parameter vorhersagen. Dazu verbanden sie die Informationen aus dem Konnektom mit ihrem Wissen über die Funktion des Schaltkreises: dem Erkennen von Bewegungen.

Neue Möglichkeiten

Das neue Modell sagt die Aktivität von 64 verschiedenen Neuronentypen des visuellen Systems der Fruchtfliege voraus und reproduziert die Ergebnisse aus über zwei Dutzend experimentellen Studien der letzten zwei Jahrzehnte. Laut den Autoren hat die neue Arbeit das Potenzial, die Hirnforschung grundlegend zu verändern, indem Vorhersagen über die Aktivität einzelner Neurone nun direkt aus dem Konnektom abgeleitet werden können. Im Prinzip kann man mit dem Modell jedes beliebige Experiment simulieren, sodass daraus abgeleitete Vorhersagen dann im Labor getestet werden können.

Die neue Forschungsarbeit enthält über 450 Seiten mit aus dem Modell abgeleiteten Vorhersagen, einschließlich der Identifizierung von Zellen, von denen bisher nicht bekannt war, ob sie an der Bewegungserkennung beteiligt sind, und die nun in Fruchtfliegen untersucht werden können. Mit diesem Ansatz ist es möglich, künstliche neuronale Netze zu schaffen, die dem Gehirn der Fruchtfliege ähnlich sind und für eine Vielzahl von Untersuchungen genutzt werden können: zum Beispiel darüber, warum biologische neuronale Netze um Größenordnungen effizienter sind als künstliche neuronale Netze. Das Projekt wurde zum Teil durch den ERC Consolidator Grant DeepCoMechTome finanziert. (eg)