TÜBINGEN/REUTLINGEN. Ich weiß nicht mehr, wann es war. Auf jeden Fall in einer Zeit, in der das Wort Fake-News in Deutschland noch nicht verbreitet war. Die evangelische Kirchengemeinde in Gomaringen hatte mich und den Kollegen Ralf Emrich vom Schwäbischen Tagblatt zu einem Diskussionsabend über Wahrheit im Journalismus eingeladen. Der Saal im Gemeindehaus war voll, und die Besucher waren überrascht, als wir die Runde eröffneten mit einer Auflistung von Fehlern aus unseren Blättern. Für den Brüller des Abends sorgte ein Konzertbericht aus dem GEA, nach dem ein nicht unbekanntes Orchester aus dem Steinlachtal unter der Leitung von Georg Friedrich Händel gespielt haben sollte.
Nicht immer ist so etwas lustig. Höchst ungern erinnere ich mich an die Amtseinsetzung von Dieter Möhler als Chef des Tübinger Finanzamts in der Gomaringer Kulturhalle. Auf dem Weg von Gomaringen in die Redaktion machte mein Gehirn aus Möhler Böhler, und so stand es dann auch im Blatt. Das ist Jahre her und mir heute noch peinlich.
Zwei Fälle, in denen wir eindeutig die Unwahrheit geschrieben haben. Aber haben wir gelogen? Zur Frage, was Fehler ist und was Lüge, blicken wir zur Erklärung mal auf die, die uns »Lügenpresse« schimpfen. Ja, ich höre den Aufschrei, aber bei diesem Thema ist die AfD nun mal eine ergiebige Quelle.
So hat die Landtagsfraktion in einer Pressemitteilung einmal sinngemäß behauptet, dass das Land für unbegleitete jugendliche Flüchtlinge so viel Geld ausgibt wie für Straßenbau. Auf der Facebook-Seite der AfD war, illustriert mit den üblichen schönen Bildchen, zu lesen: Für unbegleitete jugendliche Flüchtlinge gibt das Land so viel Geld aus wie für Infrastruktur. Das sind zwei Paar Stiefel, denn Infrastruktur ist viel mehr als Straßenbau. Ein Fehler? Oder eine Lüge?
Zugegeben: Das könnte uns auch passieren. Wenn uns ein Leser darauf aufmerksam gemacht hätte, hätten wir das im Internet sofort korrigiert und am nächsten Tag in der Zeitung in der viel beachteten Rubrik »Wir korrigieren« richtiggestellt. Mit einem Kommentar auf Facebook habe ich die AfD auf den Fehler hingewiesen. Die Folge: Der Kommentar wurde gelöscht, der Fehler blieb stehen. Spätestens in diesem Moment wurde aus dem Fehler eine Lüge: die vorsätzliche Verbreitung einer falschen Aussage.
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Bei einer Veranstaltung in Pfullingen behauptete AfD-Sprecher Jörg Meuthen, dass die Zahl der Gruppenvergewaltigungen um hundert und weißwieviel Prozent zugenommen habe. »Können Sie nachlesen«, erklärte der Professor seinen Parteifreunden. Wo sie es nachlesen können, hat er ihnen nicht gesagt. Sonst hätte ja vielleicht jemand tatsächlich nachgelesen und bemerkt, dass die Prozentzahl nur deshalb so hoch ist, weil die absolute Zahl so klein ist. Bombastische Prozentzahlen ohne Bezugsgröße: Das ist eine der ersten Lektionen im Anfängerseminar »Wie lügt man mit Zahlen«. Natürlich weiß der Professor das, und wahrscheinlich – hoffentlich – hätte er seinen Studenten so etwas um die Ohren gehauen.
In der gleichen Veranstaltung ereiferte sich Jörg Meuthen darüber, dass seine Parteifreundin Alice Weidel in einer Satire-Sendung in der ARD als »Nazi-Schlampe« bezeichnet worden sei. Was auch stimmt. Den Zusammenhang, in dem der Begriff fiel, erklärte Meuthen seinem Pfullinger Publikum aber nicht. So konnte jeder, der die Sendung nicht gesehen hatte, die Empörung teilen.
Bei solchen bewusst eingesetzten Halb- oder Viertelswahrheiten fällt mir immer ein Zitat des Schriftstellers und Journalisten-Kollegen Mark Twain ein: »Die Wahrheit ist das Kostbarste, was wir haben. Gehen wir sparsam damit um!«
Dabei legen unsere Kritiker großen Wert auf Wahrheit – auf ihre Wahrheit. Auf dem Höhepunkt der Diskussion über die Rettung von Flüchtlingen vor der libyschen Küste veröffentlichte die Tübinger AfD einen Artikel eines – wohl im Gegensatz zu uns – »unabhängigen« Journalisten, der erklärte, warum es völlig unnötig war, die Geretteten nach Italien zu bringen. Im ersten Satz behauptete er, dass zugesichert worden sei (von wem?), in Libyen »die Schiffbrüchigen aufzunehmen, zu versorgen und medizinisch zu betreuen, unter internationaler Aufsicht«. Die Rückfrage, welche internationale Organisation die Versorgung und medizinische Betreuung von Flüchtlingen in Libyen beaufsichtigt, hat die AfD nicht beantwortet.
Aber nun wieder zu uns. Der Streit um Lüge und Wahrheit im Journalismus ist so alt wie der Journalismus selbst. Im Jahr 1676 – die Zeitung als Medium war gerade einmal ein halbes Jahrhundert alt – wetterte der Rudolstädter Kanzleirat Ahasver Fritsch gegen die Presse. Zeitungen, schrieb er, seien nur etwas für Fürsten und Beamte, weil sie viel Trauriges, Gottloses, Schauderliches, Verabscheuungswürdiges und Falsches berichteten.
»Mein Gott, sieht denn niemand den Nutzen von Zeitungen?«, hielt Christian Weise, Professor am Augusteum im sächsischen Weißenfels, dem Kritiker entgegen. In seiner Schrift »Interessanter Abriß über das Lesen von Zeitungen« verwies Weise auf den Nutzen, »den wenn auch noch so ungeordnete Zeitungen den Lesern gewähren«.
Allerdings sah Weise durchaus die Mängel der Zeitungen. Nicht immer seien diese »über jeden Zweifel erhaben« und berichteten oft Irrelevantes, etwa »wieviele Reisemäntel oder wie viele Röcke« der Kaiser habe. Im Gegenzug formulierte er die ersten journalistischen Qualitätsregeln, etwa zur Gefahr der Voreingenommenheit: »Deswegen ziehe ich sogar jene Berichte vor, die aus einem neutralen Orte stammen, oder ich vereinige die miteinander verglichenen Erzählungen beider Parteien, so dass die sich daraus ergebende mittlere Linie schließlich Glauben zu verdienen scheint.« Anders gesagt: Man muss beide Seiten hören.
Wenn wir uns auf einem Termin verabschieden, bekommen wir oft zu hören: »Schreiben Sie was Schönes«. Das wollen wir gern versuchen. Manchmal gibt man uns aber auch eine Mahnung mit auf den Weg: »Berichten Sie objektiv!« Das, liebe Leserinnen und lieber Leser, können wir nicht. Wir haben als Journalisten unsere persönlichen Einstellungen und unsere Werte. Jeder von uns hat seinen Blick auf die Welt, die er subjektiv wahrnimmt.
Objektivität ist ein Ideal, dem wir uns versuchen anzunähern, was uns mal besser, manchmal auch weniger gut gelingt. Hin und wieder findet ein Teil der Leser, dass es uns in einem Artikel gut gelungen ist. Andere Leser sehen das beim gleichen Artikel aber ganz anders, was schon zeigt, dass das mit der Objektivität so eindeutig nicht ist. Auch nicht sein kann.
Wenn wir zwei Stunden Diskussion im Gemeinderat auf hundert Zeilen zusammenfassen, müssen wir auswählen. Wen zitieren wir und wen nicht? Welche Aspekte der Diskussion sind wichtig, welche überflüssig? Wie viel Platz räumen wir den Argumenten derer ein, die bei der Abstimmung verloren haben? Was nehmen wir in die Überschrift? Halten wir das Thema für so wichtig, dass es auf der ersten Seite oben steht oder platzieren wir es auf der zweiten Seite unten? Illustrieren wir die Geschichte mit einem Foto? Und wenn ja, was zeigt das Foto? All das sind subjektive Entscheidungen. Objektiv sind sie nicht, aber hoffentlich gut begründet.
Viele dieser Entscheidungen treffen wir nicht allein, sondern in der Absprache mit Kollegen, in der Abwägung zu anderen Geschichten, immer in dem Bewusstsein, dass sie in der Abendkonferenz oder in der Blattkritik am nächsten Tag beanstandet werden können. Und dass Reaktionen von Lesern kommen können, sei es als Anruf, als Leserbrief oder als Shitstorm im Internet.
Ähnlich verhält es sich mit der Entscheidung, welche Themen wir aufgreifen. Tag für Tag sind wir konfrontiert mit einer Fülle von Fragen, die es verdienten, näher beleuchtet zu werden. Aber warum entscheiden wir uns dann für diese Geschichte und nicht für eine von hundert möglichen anderen? Weil wir sie für wichtiger halten als die anderen und weil wir glauben, dass sie unsere Leser mehr interessiert, dass sie relevanter ist als eine andere. Aber wen wählen wir als Gesprächspartner aus? Wo recherchieren wir? Lauter subjektive Entscheidungen.
War es zur Zeit von Christian Weise schwierig, überhaupt an Nachrichten zu kommen, werden die Redaktionen heutzutage geflutet mit Informationen, mit Pseudo-Nachrichten, mit PR-Artikeln, mit Propaganda auf allen Kanälen. Hier auszuwählen, wird immer schwieriger. Aber das ist unser Geschäft: Informationen bewerten, auswählen, für den Leser aufbereiten.
Übrigens: AfD-Abgeordnete haben ein »Aussteigerprogramm für Mainstreamjournalisten« propagiert. Damit wollen sie erreichen, dass wir arme, von Verlegern und der Bundeskanzlerin geknechtete Kreaturen endlich das schreiben können, was die AfD lesen will. Dazu kann ich nur sagen: »Mainstreamjournalismus«? Nie war er so wertvoll wie heute. (GEA)