STUTTGART. Als eine Frau am Neujahrsmorgen mit ihrem Hund im Stuttgarter Westen unterwegs ist, wirkt dieser plötzlich ganz aufgeregt. Der fast 13 Jahre alte Mudi-Mischling Carlo läuft in der Ludwigstraße voraus und zeigt an, dass er etwas gefunden hat. Als die Stuttgarterin sich nähert, wird ihr ganz mulmig: Auf dem Gehweg liegt ein abgetrennter menschlicher Finger.
»Es war kein Blut zu sehen. Deswegen dachte ich erst, es handelt sich vielleicht um eine Attrappe«, erzählt die Frau. Doch sie ist sich nicht sicher, will den Finger auch nicht anfassen. Sie macht ein Foto und geht damit zum nahe gelegenen Polizeirevier. »Dort waren zwei junge Polizisten und eine Polizistin im Dienst, alle sehr nett. Die haben sich das angeschaut und bestätigt, dass es sich wohl um einen echten Finger handelt«, so die Hundehalterin.
Mit Böller hantiert
Gemeinsam kehrt man zum Fundort zurück. Das abgetrennte Körperteil wird gesichert. Schnell ist klar, dass es sich an der Stelle nicht um den Tatort handelt. Zunächst steht ein Verbrechen im Raum. Womöglich ein Mord mit einer in der Nähe versteckten Leiche? Oder ein Mafia-Ritual? Doch dann meldet sich die Leitstelle: Weiter unten in der Ludwigstraße hat es in der Nacht wohl einen Silvester-Unfall gegeben, bei dem ein Mann zwei Finger verloren hat. Die konnten zum Zeitpunkt des Vorfalls durch suchende Verwandte nicht mehr gefunden werden. Offenbar ist einer davon an die Fundstelle ein ganzes Stück entfernt geraten – auf welche Weise, ist nach wie vor nicht klar.
Die Polizei bestätigt, dass es am Silvesterabend gegen 22 Uhr in der Ludwigstraße einen Unfall gegeben hat. Dabei habe ein 33-Jähriger »durch falsche Handhabung eines Silvesterknallers« offenbar den gefundenen und einen weiteren Finger verloren.
Der geborgene Finger jedenfalls wird an Neujahr eilig ins Marienhospital zu seinem Besitzer gebracht. Wie eine Sprecherin des Krankenhauses am Donnerstag sagt, konnte der Finger allerdings nicht mehr angenäht werden. Dafür seien die Verschmutzungen zu groß gewesen. Der Patient sei bereits zuvor gut versorgt worden und insgesamt inzwischen wohlauf. Rund um den Jahreswechsel ist das freilich nicht der einzige Fall schwerer Verletzungen in Stuttgart gewesen, die mit Silvester zu tun hatten. Allein im Marienhospital musste man mehrere Patienten versorgen, die durch Böller oder Raketen Verletzungen erlitten hatten. Bei dreien mussten einer oder mehrere Finger amputiert werden. In der Interdisziplinären Notaufnahme und der Augenklinik des Klinikums Stuttgart zählte man in der Nacht mehr als 80 Patienten. Fast 30 hatten schwere Augenverletzungen durch Feuerwerkskörper erlitten. Oft hat auch Alkohol eine Rolle gespielt.
Und so bizarr die Finger-Geschichte klingt: Im Marienhospital hat man schon ganz andere Dinge erlebt. In einem Fall konnte einem Patienten ebenfalls ein abgetrennter Finger nicht mehr angenäht werden. Der wollte das Körperteil aber mit nach Hause nehmen, wozu auch immer. Auf dem Heimweg entschied er sich offenbar um – und entsorgte den Finger unterwegs kurzerhand in einem Blumenkübel. Das wiederum sorgte für einen großen Polizeieinsatz, weil man erst ein Verbrechen vermutete.
Drei Fälle aufgedeckt
Und was Carlo betrifft: Es ist nicht das erste Mal, dass er zum Ermittler wird. Gemeinsam mit seinem Labrador-Kumpel Bruno hatte er bereits vor gut zehn Jahren mehrfach eine feine Spürnase bewiesen. Erst waren die beiden im März 2014 bei einem Spaziergang im Heslacher Wald auf ein Drogenversteck gestoßen. Es handelte sich um mehrere Hundert Gramm Heroin. Carlo wäre damals fast gestorben, weil er beim Graben etwas von dem Pulver gefressen hatte. Nur wenige Monate später erschnüffelten die beiden Hunde dann an einer Bushaltestelle im Glemstal erneut Drogen – diesmal in einer zugeknoteten Sportsocke unter einem Blumenkübel versteckt.
Und jetzt also ein Finger. Dreimal Kommissar Carlo, ein echter Ermittler. Und bei der Polizei inzwischen im positiven Sinne aktenkundig. »Ich bin wirklich froh, dass keine Kinder den Finger gefunden haben«, sagt Carlos Besitzerin. Eines steht jedenfalls fest: Bei diesem Hund ist immer mit allem zu rechnen. Und an Silvester leider auch. (dpa)