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Retter brauchen 80 Minuten – Frau in Stuttgart tot

Eine 90-Jährige setzte einen Notruf ab, aber die Leitstelle schätzte die Situation als nicht dringend ein

Ein Notruf am Armband soll Senioren helfen.  FOTO: HUTTENHOELSCHER/ADOBE STOCK
Ein Notruf am Armband soll Senioren helfen. FOTO: HUTTENHOELSCHER/ADOBE STOCK
Ein Notruf am Armband soll Senioren helfen. FOTO: HUTTENHOELSCHER/ADOBE STOCK

STUTTGART. Der Anruf, den die Familie einer Frau aus Stuttgart-Hofen an einem Abend im vergangenen September bekommt, löst Entsetzen aus: Die allein lebende 90-Jährige werde gerade in ihrer Wohnung reanimiert, teilen Rettungskräfte mit. Allerdings vergeblich. Kurze Zeit später wird der Tod festgestellt. Sie ist einem Herzinfarkt erlegen.

Angesichts des hohen Alters der Betroffenen erscheint das den Rettungskräften zunächst nicht ungewöhnlich. Die Angehörigen wollen zur Bewältigung ihrer Trauer aber wissen, unter welchen Umständen die Mama und Oma gestorben ist. Was man dann erfahren habe, sei erschreckend, sagt der Schwiegersohn. Womöglich hat ein Versagen des Systems zu dem Todesfall geführt.

Zwei Notrufe nützen nichts

Die Verstorbene war über Jahre Kundin des Hausnotrufs des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) gewesen. Mit solchen Alarmgeräten könne ältere oder kranke Menschen, gerade wenn sie oft alleine sind, schnell Hilfe rufen, meist per simplem Knopfdruck. Viele nutzen solche Systeme verschiedener Anbieter. »Mit der Einrichtung des Hausnotrufs des DRK haben meine Schwiegermutter und wir als Angehörige darauf vertraut, dass in einer medizinischen Notlage schnell professionelle Hilfe erfolgt. Da haben wir uns getäuscht«, sagt der Schwiegersohn.

Nach monatelanger Rekonstruktion zeigt sich: Die Frau setzt bereits knapp 80 Minuten vor der Reanimation über das System einen Notruf ab. Sie spricht dabei von Schmerzen in der Brust, Bluthochdruck und Übelkeit – eindeutige Symptome eines Herzinfarkts. Von der Hausnotrufzentrale wird der Fall an die Integrierte Leitstelle von DRK und Feuerwehr (ILS) in Bad Cannstatt weitergegeben. Einen eigenen Mitarbeiter schickt man nicht, weil die Frau angibt, selbst die Tür öffnen zu können.

Doch es kommt niemand. Die Leitstelle stuft den Fall als »nicht zeitkritisch« ein, schickt keinen Notarzt, sondern nur einen Rettungswagen. Der bricht die Anfahrt unterwegs ab und fährt zu einem anderen Einsatz. Die Frau betätigt den Notruf erneut. Doch erst knapp eine Stunde nach dem ersten Alarm wird erneut ein Rettungswagen losgeschickt. Als der eintrifft und den Notarzt anfordert, ist es zu spät. »Sie musste über eine Stunde mit eindeutigen Herzinfarktsymptomen und trotz zweimaliger Betätigung des Hausnotrufes allein in ihrer Wohnung um ihr Überleben kämpfen, letztendlich erfolglos«, sagen die Angehörigen. Beim DRK-Kreisverband Stuttgart bestätigt man die Vorkommnisse. »Wie wir auch schon in mehreren Telefonaten und E-Mails gegenüber der Familie zum Ausdruck gebracht haben, macht uns der tragische Vorfall vom September 2024 immer noch äußerst betroffen«, heißt es in einer schriftlichen Stellungnahme an unsere Zeitung. Dass einer Hausnotruf-Nutzerin trotz abgesetztem Notruf nicht rechtzeitig geholfen werden konnte, dürfe nicht passieren. »Mit solch einer Tragödie sah sich das DRK Stuttgart bislang auch noch nicht konfrontiert.«

»Zunächst und vor allem war es uns wichtig, gegenüber allen Familienmitgliedern unser tief empfundenes Mitgefühl auszudrücken. Dabei war uns bewusst, dass das für die Angehörigen nur ein geringer Trost sein konnte«, so das DRK. Für die Aufarbeitung habe man der Familie jegliche Unterstützung zugesichert und den Angehörigen »transparent alle Informationen zur Verfügung gestellt, die wir mit unseren Möglichkeiten ermitteln konnten«.

Die entscheidende Frage bleibt dabei aber offen: Wo genau ist die Fehleinschätzung passiert, warum ist kein Blaulicht-Einsatz erfolgt? »Trotz eingebundener interner Qualitätssicherungsstelle und Stellungnahmen der beteiligten Mitarbeitenden können wir dazu keine befriedigende Antwort geben. Offensichtlich gab es ein Kommunikationsproblem zwischen den Mitarbeitern«, heißt es in der Stellungnahme des DRK. Was beim Gespräch zwischen der Hausnotrufzentrale des DRK und dem Disponenten in der Integrierten Leitstelle genau gesprochen wurde, könne man nicht nachvollziehen. Es sei zwar wie jeder andere eingehende Notruf aufgezeichnet worden, »ließ sich aber wegen akustischer Überlagerungen nicht auswerten«. Es sei schlicht nichts zu verstehen.

Wie war die Leitstelle besetzt?

Die Angehörigen beschäftigt auch eine andere Frage: War denn auf der Leitstelle zum Zeitpunkt des Gesprächs überhaupt genug qualifiziertes Personal vorhanden? Zuletzt gab es immer wieder Gerüchte über eine zu dünne Personaldecke. Eine Antwort des Innenministeriums auf eine Anfrage des FDP-Landtagsabgeordneten Friedrich Haag hatte gezeigt, dass zwischen Januar und August 2024 die Ausfälle im rettungsdienstlichen Bereich der Leitstelle jeweils zwischen vier und neun Prozent gelegen hatten. Allerdings verweist das Ministerium darauf, es habe sich dabei nur um »nachrangig zu besetzende Bereiche« gehandelt. Auch das Stuttgarter DRK betont die volle Einsatzfähigkeit der ILS. Es sei »sowohl qualifiziertes als auch ausreichend Personal im Einsatz« gewesen. Das gelte auch für den beteiligten Notrufsachbearbeitenden. »Die Integrierte Leitstelle Stuttgart ist jederzeit personell so aufgestellt, dass die notwendige Hilfeleistung erbracht werden kann. Im konkreten Fall war die ILS planmäßig mit sechs Disponenten besetzt«, heißt es.

Diverse Änderungen beim DRK

Und jetzt? Man habe nach dem tragischen Vorfall einiges unternommen, um eine Wiederholung künftig auszuschließen, betont man beim Roten Kreuz. Dazu gehöre die technische Behebung akustischer Überlagerungen von Notrufgesprächen in der Leitstelle. Außerdem sei es inzwischen möglich, eine Konferenzschaltung zwischen Integrierter Leitstelle, Hausnotrufzentrale und Hausnotrufgerät zu machen, sodass sich der Disponent im Zweifel selbst ein Bild machen kann.

Vor allem aber fahre der Hausnotruf-Hintergrunddienst »die Einsatzstelle bei jedem vom Hausnotruf ausgelösten Einsatz und ergänzend zum Rettungsdienst an«. Die Angehörigen bleiben nicht nur mit Trauer, sondern auch mit Zwiegespaltenen Gefühlen zurück. Positiv sei, sagen sie, dass das DRK die Versäumnisse einräume. Allerdings sei der Verweis auf die Technik nicht befriedigend: »Dieses Gespräch hat ja telefonisch zwischen zwei Menschen stattgefunden. Und da wurden gravierende Fehler gemacht. Dass sich dies nicht mehr nach vollziehen lässt, ist bedauerlich.«

Offen bleibe zudem, warum auch dem zweiten Notruf nicht mehr Beachtung geschenkt worden sei. (GEA)