In den Schulen wird erst seit ein paar Wochen wieder unterrichtet, da formulieren die Lehrer bereits die ersten Alarmrufe. Denn nach einer Studie des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) haben viele Schulen in Baden-Württemberg bereits wenige Wochen nach dem Start des Schuljahres teils dramatische Probleme, die planmäßigen Unterrichtsstunden abzudecken. Rund 10 Prozent der Grundschulen, 20 Prozent der weiterführenden Schulen und 40 Prozent der Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren haben nach eigenen Angaben Probleme, den Regelbetrieb zu sichern, wie der VBE am Mittwoch in Stuttgart kritisierte.
»Viele dieser Schulen sind längst im Notbetrieb angekommen«, sagte der VBE-Landesvorsitzende Gerhard Brand. Neben- und auch Hauptfächer könnten dann teilweise nicht mehr unterrichtet werden.
Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) räumte ein, dass die Lehrerversorgung in der Krisensituation angespannt sei. »Aus den Rückmeldungen der Regierungspräsidien und den Staatlichen Schulämter wissen wir, dass die Schulen aber grundsätzlich arbeitsfähig sind. Deswegen ist es nicht gerechtfertigt, von einem Notbetrieb an den Schulen zu sprechen.« Es sei auch deshalb wichtig, nicht ins Negative zu übertreiben, weil das dem ohnehin stark belasteten Schulsystem mehr schade als helfe.
An der Studie hatten sich insgesamt 884 Schulen beteiligt. Da sie aber nicht auf wissenschaftlichen Kriterien aufgebaut wurde, ist die Studie laut VBE nicht repräsentativ.
Unter anderem sei laut Umfrage etwa jede fünfte Grundschule (19 Prozent) deutlich unterversorgt, sagte Brand. Diese Schulen hätten bereits zum Schuljahresstart mit einem Versorgungsgrad von unter 90 Prozent zu kämpfen. Brand nannte dies einen »besorgniserregenden Wert«. Das Versprechen einer »verlässlichen Grundschule« werde an zahlreichen Schulen gebrochen.
Um den planmäßigen Unterricht halten zu können, müssten fast 40 Prozent der Grundschulen Klassen zusammenlegen, hieß es weiter. In 55 Prozent der befragten Sekundarschulen falle Unterricht wegen Personalmangels aus. Besonders prekär sei die Situation in den Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren. Vier von zehn Schulen könnten den Regelbetrieb nicht aufrechterhalten, also manche Haupt- und Nebenfächer nicht mehr anbieten. »Im Bereich der Sonderpädagogik sind diese Ergebnisse schlicht nicht mehr vertretbar«, sagte Brand. »Schulschließungen können für die Wintermonate nicht ausgeschlossen werden.«
Politik und Gesellschaft erwarteten von den Schulen, Aufgaben zu erledigen, für die sie eigentlich nicht vorgesehen seien: Neben Sozialarbeit und Verwaltungsaufgaben bleibe oft keine Zeit für qualitativen Unterricht, kritisierte der VBE. Laut Umfrage fordert über alle Schularten hinweg eine Mehrheit von 50 bis 60 Prozent der Schulleitungen, auf bildungspolitische Großprojekte wie Ganztag und Inklusion zu verzichten. »Die politischen Verantwortlichen müssen sich kritisch hinterfragen, ob diese Projekte umsetzbar sind«, sagte Brand.
Es sei wichtig, Schulen und Lehrkräfte vor allem in Bürokratie und Verwaltungsaufgaben zu entlasten und in der Schulsozialarbeit zu unterstützen. Um die Zahl der Lehrerinnen und Lehrer zu erhöhen, müssen aus Sicht der befragten Schulleitungen Grundschullehrkräfte besser bezahlt, Klassen verkleinert und Deputate gesenkt werden.
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) fordert, die Reserve an Vertretungslehrkräften aufzustocken. »Wir schlagen vor, in der Kampagne «The Länd» Geld einzusparen und mit 12 Millionen Euro pro Jahr einen Stufenplan zum Ausbau der ständigen Vertretungsreserve mit 200 neuen Stellen jährlich zu starten«, sagte die GEW-Landesvorsitzende Monika Stein.
Auch Stefan Fulst-Blei, der bildungspolitische Sprecher der SPD-Landtagsfraktion, sieht Handlungsbedarf: »Wir brauchen dringend den Ausbau der Studienplätze im Lehramt, eine höhere Krankheitsvertretungsreserve und bessere Rahmenbedingungen für unsere Lehrkräfte.«
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