STUTTGART. Nach den Entscheidungen über weitere drastische Corona-Auflagen schlägt der Landesregierung eine Welle der Kritik aus Kultur, Wirtschaft und politischer Opposition entgegen. Dagegen verteidigte Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) die Beschlüsse. Er baut trotz der Kritik nach eigenen Angaben auf einen großen Rückhalt in der Bevölkerung: »In Wirklichkeit wissen wir aus Umfragen: Es sind nur 12 Prozent, die die Maßnahmen für zu scharf halten«, sagte der Regierungschef am Donnerstag dem Südwestrundfunk (SWR). »Fast 30 Prozent halten sie nicht für scharf genug.«
Es komme nun auf das Verhalten der Menschen an, sagte Kretschmann. Die Ministerpräsidenten und die Bundeskanzlerin hätten zwar die Beschlüsse gefasst. »Aber ohne, dass die Bevölkerung auch mitmacht und sich auch daran hält, können wir die Welle nicht brechen.« Bereits in einer ersten Erklärung am Vorabend hatte der Grünen-Politiker eindringlich gemahnt, die zeitlich befristeten Einschränkungen so bald wie möglich umzusetzen. »Glauben Sie mir, es kommt auf jeden Tag an«, sagte er. »Es geht jetzt um Schnelligkeit, es geht um Entschlossenheit und Konsequenz.«
Unter Zeitdruck steht nun auch die Politik: Die bundesweit geltenden Einschränkungen sollen am Montag in Kraft treten, zuvor müssen sie aber noch auf Länderebene formuliert und beschlossen werden. Nach Angaben aus dem Staatsministerium will das Regierungskabinett am Donnerstagnachmittag in einer Sondersitzung beraten und die Umsetzung beschließen. Die Entscheidungen sollen danach in Verordnungen formuliert und »zum Wochenende hin« in den Umlauf der Ministerien gebracht werden, sagte ein Regierungssprecher der dpa.
Der Landtag wird am Freitag (13.00) zu einer Sondersitzung zusammenkommen. Eine Abstimmung über die Einschränkungen ist nach bisheriger Planung aber nicht vorgesehen.
Der Vorsitzende der CDU-Fraktion, Wolfgang Reinhart, sagte: »Die Corona-Krise ist nicht nur die Stunde der Exekutive, sondern auch die des Parlaments.« Zuvor hatten auch Grüne, FDP und SPD eine Sitzung des Plenums zum Thema gefordert.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpräsidenten der Länder hatten am Mittwoch die weiteren Einschränkungen des öffentlichen Lebens beschlossen, um die stark steigenden Infektionszahlen in den Griff zu bekommen. Demnach müssen Restaurants und Kneipen auch im Südwesten wieder schließen, genauso wie Theater, Kosmetikstudios, Massagepraxen, Tattoo- und Fitnessstudios oder Kinos. In der Öffentlichkeit sollen sich nur noch maximal zehn Menschen aus dem eigenen und einem zweiten Hausstand gemeinsam aufhalten dürfen. Veranstaltungen werden gestrichen und Zuschauer in der Bundesliga wieder verboten. Auch der Spielbetrieb im Amateurfußball wird mit sofortiger Wirkung bis Ende November eingestellt.
Offen bleiben sollen Schulen, Kindergärten, der Groß- und Einzelhandel und Friseurläden. Nach Ablauf von zwei Wochen wollen Kanzlerin und Länderchefs die erreichten Ziele beurteilen und notwendige Anpassungen vornehmen.
Diese Frist bis Ende November ist aus Sicht des Städtetags zu lang. »Einen sehr kurzen Lockdown von einer Woche, maximal zwei Wochen könnten wir akzeptieren«, sagte Vorstandsmitglied Gudrun Heute-Bluhm der dpa. Insbesondere die Gastronomie, Kultureinrichtungen und Sportvereine treffe die Maßnahme sehr stark. Anders als private Kontakte seien diese aber nicht die treibenden Kräfte hinter den bundesweit voranschreitenden Corona-Infektionszahlen.
Dagegen lässt sich die Politik aus Sicht des Vorsitzenden des Weltärztebundes, Frank Ulrich Montgomery, zu viel Zeit mit den neuen Corona-Maßnahmen. »Nach meiner Auffassung kommen sie auf den allerletzten Drücker. Ich frage mich auch, warum wir dem Virus jetzt noch bis Montag Zeit geben müssen«, sagte der Mediziner dem Südwestrundfunk (SWR) in Baden-Baden.
Der Intendant der Württembergischen Staatstheater wirft der Politik Symbolpolitik vor. »Wir werden in Mithaftung genommen für eine Symbolpolitik«, kritisierte der Geschäftsführende Intendant des Stuttgarter Drei-Sparten-Hauses, Marc-Oliver Hendriks. »Das schmerzt.« Theater seien sichere Orte. »Es wirkt auf mich vielmehr ein bisschen so, als nehme man die attraktiven Dinge aus den Schaufenstern, nur damit die Leute zu Hause bleiben«, sagte Hendriks.
Kritik kommt auch vom Bundesverband mittelständische Wirtschaft (BVMW) in Baden-Württemberg. Von Merkel und den Ministerpräsidenten werde gerne davon gesprochen, dass Schulen, Kitas und Wirtschaft weitergehen sollten wie bisher, sagte der Landessprecher Ulrich Köppen in Grafenau (Kreis Böblingen). Doch das erwecke den Eindruck, »dass Freizeit-Einrichtungen inklusive Theater, Konzert, Kino oder Kabarett dem reinen Vergnügen dienen«. Vielmehr sei es so, dass die deutsche Kulturlandschaft von der Basisversorgung bis hin zu Spitzenleistungen von Selbstständigen und Kleinstfirmen realisiert werde. »Ohne deren eigenes Verschulden wird jetzt zum zweiten Mal durch den Lockdown quasi ein Berufsverbot ausgesprochen.« (dpa)