STUTTGART. Ministerpräsident Winfried Kretschmann hält nichts vom Gendern im Klassenzimmer. »Die Schulen müssen sich an das halten, was der Rat für deutsche Rechtschreibung vorgibt. Sonst haben wir am Ende keine einheitliche Rechtschreibung mehr«, sagte der Grünen-Politiker der Deutschen Presse-Agentur in Stuttgart. »Es ist schon schlimm genug, dass so viele unserer Grundschüler nicht lesen können. Man muss es denen nicht noch erschweren, indem man in der Schule Dinge schreibt, die man gar nicht spricht.«
Kretschmann sorgt sich ganz allgemein um die Entwicklung der Sprache - die Genderdebatte allerdings steht für ihn nicht im Zentrum, sondern lenke eher ab: »Ich finde bedauerlich, dass wir die Fragen der Sprache oft auf das Gendern verkürzen«, sagt er. »Unsere Sprache ist nicht mehr kreativ. Wir überfrachten nur alles mit merkwürdigen Anglizismen«, kritisierte er. »Es wäre gut, wenn wir insgesamt wieder kreativer mit unserer eigenen Sprache umgehen würden statt mit Doppelpunkt und Unterstrich nicht sprechbare Dinge zu schreiben.«
Kretschmann kritisierte im Sprachgebrauch auch die eigene Zunft, die wieder so reden müsse, dass die Menschen es auch verstehen. »Wir Politiker sind Meister darin, Plastikwörter zu generieren.« Das Sprachgendern sei zwar nicht rückgängig zu machen. »Aber man sollte es wenigstens nicht übertreiben.« Kretschmann ist überzeugt: »Sprache kann man nicht politisch befehlen.«
Der Landesschülerbeirat hatte vor kurzem gefordert, dass die Akzeptanz für das Gendern an Schulen steigen müsse. Die Verwendung geschlechtergerechter Sprache in schriftlichen Prüfungen dürfe nicht mehr als Fehler gewertet werden. Es sei nicht mehr zeitgemäß, wenn Lehrkräfte Sternchen, Unterstrich oder Doppelpunkt negativ markierten, so die Schülervertreter.
Laut Kultusministerium enthalten die Beurteilungs- und Korrekturrichtlinien für die Abschlussprüfungen aber keine Aussagen zum Gendern. Das Ministerium wusste auch von keinen konkreten Fällen, in denen genderneutrale Sprache in Klausuren angestrichen wurde.
Die CDU-Fraktion pflichtet dem Regierungschef bei - und macht Kretschmann ein Angebot: »Wir nehmen unseren Ministerpräsidenten beim Wort. Gerne können wir bereits nächste Woche zusammen umsetzen, dass Doppelpunkt, Unterstrich und Sternchen in Klassenräumen nur dann Verwendung finden, wenn es auch die deutsche Rechtschreibung so vorsieht«, sagte Fraktionschef Manuel Hagel. »Sprache und Schrift bleiben auch im 21. Jahrhundert Schlüsselqualifikationen. Das ist kein Spielfeld für irgendwelche Ideologien.«
Auch FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke, sonst nie um ein kritisches Wort verlegen, lobt die Haltung des Ministerpräsidenten. Man werde weiter darauf achten, »dass auch und vor allem im Bereich der Kultusministerin und in der Schulpraxis selbst die Gendersprache nicht ihr Unwesen treiben« könne.
Bildungsverbände, die Kretschmann und seine Politik sonst im Dauerfeuer kritisieren, stärken ihm in dem Punkt den Rücken. So etwa der Verband Bildung und Erziehung (VBE): Viele Schülerinnen und Schüler täten sich mit der Sprache schwer, sagte der Verbandsvorsitzende Gerhard Brand der dpa. »Genau bei dieser Gruppe führt die vom Landesschülerbeirat in die Debatte geführte Position zu großen Schwierigkeiten.«
Schüler benötigten ein klares Regelwerk zum Erlernen der Sprache und dieses Regelwerk bestehe bereits, sagte Brand. »Es sieht weder kreative Schreibweisen, noch Sternchen, Schrägstriche, Unterstriche, Doppelpunkte und x`e vor – schon gar nicht deren willkürlichen Einsatz«, sagte Brand. Die deutsche Sprache habe genügend Möglichkeiten, regelkonform zu gendern - indem einfach beide Geschlechter (Schülerinnen und Schüler) genannt würden oder ein Neutrum (Lehrkräfte) verwendet werde.
Auch der Philologenverband, der die Gymnasien vertritt, stimmt Kretschmann zu. Ein »unsinniges Gendern« würde bereits den Grundschülern das Lernen erschweren, sagte Verbandschef Ralf Scholl. »Auch in der DDR wurde versucht, Bewusstsein über von oben verordneten Sprachgebrauch zu schaffen«, sagte er. »Wer in seinem privaten Umfeld gendern will, soll das tun. In der Schule hat das nichts zu suchen.« Die Genderdebatte gehöre in den Politikunterricht, nicht in die Deutschstunde, so Scholl.
Die Gewerkschaft GEW hingegen rät zu Gelassenheit. »Unsere Schüler*innen sprechen im Jahr 2023 nicht mehr mittelhochdeutsch. Sprache verändert sich und ist immer auch ein Abbild gesellschaftlicher Entwicklungen gewesen«, teilte die Landesvorsitzende Monika Stein mit. »Wenn sich die Sprache verändert, muss sich auch die Schule damit auseinandersetzen. Die Lehrkräfte sind Profis genug, die richtigen Maßstäbe im Umgang mit gendergerechter Sprache zu setzen.«
Bei einem Diktat, bei dem die Rechtschreibregeln des Duden im Vordergrund stünden, müsse das Gendern aus Sicht der GEW anders bewertet werden als bei einer Textaufgabe in Mathematik oder in einem mehrseitigen Essay, bei dem kreative Freiheit möglich sein müsse. In der Grundschule oder bei Deutsch als Zweitsprache stehe das Lernen der Sprache im Zentrum. Die Bildungsgewerkschaft verwendet in der Kommunikation mit ihren Mitgliedern seit 2019 selbst das Gendersternchen.
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