STUTTGART. Der Fall der syrischen Flüchtlingsfamilie H. erregt viele Gemüter – deutlich über die Grenzen Baden-Württembergs hinaus. Sohn Kahlil hatte vergangene Woche Dienstag um 18.25 Uhr mit einem Messer in der Fußgängerzone der Landeshauptstadt auf eine türkisch-syrische Familie eingestochen, drei Männer verletzt. Einer von ihnen schwebte zwischenzeitlich in Lebensgefahr. Begleitet wurde der 17-jährige von seinem 2002 in Aleppo geborenen Bruder Mohammed und einem dritten, nicht zur Familie gehörenden Mann. Zunächst hatten die Brüder – so ermittelte die Polizei – die über die Königstraße flanierende, fünfköpfige Familie provoziert. Die ignorierte die Beleidigungen, schlenderte weiter an den Schaufenstern vorbei. Dann tauchte das Trio wieder auf und Khalil stach unvermittelt zu.
Wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) schreibt, soll der 17-Jährige vor der Tat eine Gerichtsverhandlung am Stuttgarter Landgericht besucht haben. Ein Bruder des Täters muss sich dort vor einer Jugendkammer wegen versuchten Totschlags verantworten. Mit ihm sind drei weitere junge Männer aus Syrien, Irak und dem Iran angeklagt. Was sie verbindet, ist die gemeinsame kurdische Abstammung. Ihnen wird vorgeworfen, am 17. November 2023 in der Nähe des Einkaufszentrums Milaneo eine Menschengruppe mit Messern und Macheten angegriffen zu haben.
Der 17-jährige Kahlil H. soll nach Informationen der FAZ bis 17.44 Uhr die Verhandlung gegen seinen Bruder verfolgt haben, bevor er dann gemeinsam mit zwei anderen die Familie am Rotebühlplatz angriff.
Sozialarbeiter kapitulieren
33 Einträge finden sich zu ihm im polizeilichen Auskunftssystem, drei zu seinem Bruder Mohammed, der zur Festnahme ausgeschrieben war. Überhaupt: 110 Einträge finden die Ermittler in ihren Dateien für die zwölfköpfige Familie, die nach und nach seit 2016 in Deutschland Schutz suchte und fand.
Lediglich zu einer Schwester und der Mutter findet sich bislang kein Eintrag in den Datenbanken. Erschleichen von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch und Leistungsbetrug gehört zu den minder schweren Straftaten. Bei den schweren haben die Beamten notiert: gefährliche Körperverletzung, räuberische Erpressung und schwerer Einbruchsdiebstahl. Selbst den zwölf Jahre alten, jüngsten Sohn kennt die Polizei schon.
Wie auch das frei stehende, 230 Quadratmeter große, weiße Haus im Stuttgarter Norden, dass die Familie bewohnt. »Eine solche Familie ist eine Herausforderung für jeden Sozialdienst«, sagt ein Sozialarbeiter, der die Akte der Familie H. kennt. Und der seinen Namen nicht in der Öffentlichkeit lesen will, weil er sich vor möglicher Rache fürchtet. »Das sind Fälle, bei denen wir kapitulieren. Da kommt nichts an, kein Hilfsangebot, kein Gespräch, keine Drohung. Da schaltet man irgendwann nur noch ab und überlässt die Sache der Polizei. Wohlwissend, dass die am wenigsten ändern kann.«
Zumal die Familie H. kein Einzelfall ist: Anfang Juli fiel der Nigerianer Wisdom O. innerhalb von zwei Tagen drei Mal der Polizei in Karlsruhe und Mannheim auf. Zunächst erhielt er am Bahnhof in Karlsruhe mittags einen Platzverweis durch Bundespolizisten, weil er Fahrgäste belästigte. Er biss und kratzte die vier Beamten, ging aber schlussendlich seines Weges. In der Nacht fuhr er mit einem Regionalzug ohne Fahrkarte nach Mannheim. Dem Schaffner sowie zwei hinzugerufenen Polizisten drohte er, sie zu ermorden, sollte er den Zug verlassen müssen. Mit einem Teppichmesser stach er in Richtung der Polizisten, verletzten einen am Ohr, Unterarm und Hand, seine Kollegin am Oberschenkel.
Abschiebung nicht möglich
Mit Pfefferspray zur Räson gebracht und in Handschellen gelegt wurde der 36-jährige zur Polizeiwache gebracht. Der Bereitschaft habende Staatsanwalt lehnte es ab, den Mann in Haft zu nehmen: Er habe einen festen Wohnsitz und ein Teppichmesser sei nicht geeignet, lebensgefährliche Verletzungen hervorzurufen, begründete er seine Entscheidung.
Zehn Stunden später wurde der Beschuldigte wieder im Zug ohne Fahrschein angetroffen und auf dem Bahnsteig in Mannheim kontrolliert. Dabei griff er einen der Polizisten wiederum an. Die Staatsanwaltschaft in Mannheim verwies den Fall wegen der beiden anderen Angriffe nach Karlsruhe.
Dort blieb die Staatsanwaltschaft bei ihrer Entscheidung aus der vorausgegangen Nacht. Erst am 10. Juli wurde der Beschuldigte verhaftet, nachdem Beamte des regionalen Sonderstabs für gefährliche Ausländer ihn wegen des Verdachts auf versuchten Totschlag einem Haftrichter vorgeführt hatten. Wisdom O. war in den Dateien der Polizei als bewaffneter Gewalttäter verzeichnet.
Solche Fälle ziehen Polizisten jeden Monat zu Dutzenden aus der Tasche. Nur, sagt der Sozialarbeiter, »was passiert mit so einem Wissen mit diesen Menschen? Da sind unsere rechtsstaatlichen Mittel doch sehr, sehr begrenzt. Übrigens schon von jeher, da hat sich keine Bundes- oder Landesregierung mit Ruhm bekleckert«.
Sollte zweifelsfrei feststehen, wo der Täter herkommt, und es gibt ein Rücknahmeabkommen mit diesem Staat, dann kann er abgeschoben werden. Viele Asylsuchenden und Flüchtlinge aber haben gar keine Ausweispapiere bei sich. Auch weil beispielsweise Belarus gezielt Flüchtlingen ihre Pässe und Geburtsurkunden systematisch abnimmt und über seine Grenze in die Europäische Union schleust, um das westliche Europa zu destabilisieren.
Das heißt: Die Identität der Schutzsuchenden kann nur dann geklärt werden, wenn zuvor schon einmal ihre Fingerabdrücke bei einer zur EU gehörenden Polizei genommen wurden. DNA-Test, um beispielsweise Alter und Herkunftsregion zu bestimmen, werden in Deutschland nicht genommen. Länder, die sich mit dem Verweis auf die nicht geklärte Herkunft weigern, mutmaßliche Staatsangehörige wieder aufzunehmen, würden so deutlich stärker unter Druck gesetzt, ihre Meinung zu ändern.
Mit Syrien und Afghanistan sprechen hochrangige Beamte des Außenministeriums derzeit über andere Staaten über die Rücknahme von Asylbewerbern und Flüchtlingen. Ob und wann es zu welchem Ergebnis kommt, vermag derzeit niemand zu sagen. Wirtschaftlicher Druck bis hin zu Sanktionen oder dem Entzug der Entwicklungshilfe wird nicht auf Staaten ausgeübt, die ihre Bürger nicht wieder aufnehmen.
Wer kontrolliert Messerverbot?
Als kurzfristig wirkende Maßnahme – so werden Stimmen wie die des Landesvorsitzenden der CDU, Manuel Hagel, laut – soll das Verbot wirken, Messer ab einer bestimmten Klingenlänge in der Öffentlichkeit mit sich zu führen. »Allerdings weist die Gewerkschaft der Polizei auf die Notwendigkeit hin, praktikable und rechtskonforme Ausnahmeregelungen zu schaffen«, verkompliziert Thomas Mohr, der stellvertretende GdP-Vorsitzende im Land.Und macht damit die nächste Diskussion auf: In Baden-Württemberg treffen deutschlandweit statistisch gesehen die wenigsten Polizisten auf die meisten Einwohner. Wer, frotzeln daher Polizisten im Streifendienst, »wer bitte soll das denn kontrollieren?« Abgesehen davon: Auf der Stuttgarter Königstraße, wo Khalil zustach, gibt es bereits eine Messerverbotszone. »Ein Besoffener weiß auch, dass er so nicht Auto fahren darf. Hunderte, wenn nicht Tausende, tun es trotzdem jeden Tag«, sagt ein Polizist und zuckt mit den Schultern. (GEA)