Erschreckend, beängstigend, Gänsehaut verursachend - mit drastischen Worten machte die Vorsitzende Richterin in ihrer Urteilsbegründung deutlich, dass der Mord an der 14-jährigen Ayleen ein außergewöhnliches Verbrechen ist. Den 30-jährigen Angeklagten verurteilte das Landgericht Gießen am Donnerstag unter anderem wegen Mordes, versuchter Vergewaltigung und Entziehung Minderjähriger zu einer lebenslangen Haft, stellte die besondere Schwere der Schuld fest und ordnete die Sicherungsverwahrung an. Damit ist nahezu ausgeschlossen, dass der Mann vorzeitig nach 15 Jahren in Freiheit kommt. Die Gesellschaft und »jedes einzelne Mädchen« müssten vor dem Mann geschützt werden, sagte die Vorsitzende Regine Enders-Kunze. Für sie besteht kein Zweifel, dass der Angeklagte das Mädchen aus sexuellen Motiven tötete. Als Mordmerkmale kämen entweder die Verdeckung einer Sexualstraftat oder die Befriedigung des Geschlechtstriebs in Betracht.
Der 30-Jährige selbst verfolgte die Urteilsbegründung wie schon den vorangegangenen rund dreieinhalbmonatigen Prozess nach außen ohne erkennbare Regung. Seine Verteidiger kündigten an, Revision einzulegen. Sie waren zwar ebenfalls von Mord ausgegangen, hatten aber eine besondere Schwere der Schuld zurückgewiesen und lediglich das Mordmerkmal der Verdeckung einer Straftat gesehen. Auch eine Sicherungsverwahrung hatten sie nicht in Zweifel gezogen.
Der Mann und die Schülerin aus Gottenheim in der Nähe von Freiburg kannten sich aus sexualisierten Chats und einem Online-Spiel. Nach ersten Kontakten Ende April vergangenen Jahres hatte der Deutsche das Mädchen massiv bedrängt, immer wieder Nacktfotos von der 14-Jährigen gefordert und sie damit erpresst, indem er drohte, ihre Eltern zu informieren, aber auch, sich umzubringen oder ihren Familienmitgliedern etwas anzutun. Teils schrieb der Angeklagte der Schülerin Hunderte Nachrichten pro Tag. Schon in Nachricht Nummer Sieben habe er Ayleen gefragt, ob sie Interesse an einem »Sugardaddy« habe, wenige Nachrichten später, ob sie mit ihrem Sugardaddy auch Sex haben wolle, sagte die Vorsitzende. Ähnlich kommunizierte der Mann mit anderen Mädchen, auch eine 13-Jährige brachte er dazu, ihm intime Fotos zu schicken, deshalb war er auch wegen Beschaffung von Kinderpornografie angeklagt. Seine Chatpartnerinnen seien dabei »austauschbar« gewesen, es sei dem Angeklagten nie darum gegangen, diese persönlich kennenzulernen, so die Vorsitzende.
Am 21. Juli vergangenen Jahres war der Mann nach Gottenheim gefahren, hatte Ayleen dort abgeholt und sie nach Hessen in ein Waldstück nahe Langgöns im Landkreis Gießen gebracht. Dort versuchte er, die 14-Jährige zu vergewaltigen und erwürgte sie. Den Leichnam des Mädchens legte er im Teufelsee nahe Echzell im Wetteraukreis ab. Die Schülerin habe sterben müssen, weil er Geschlechtsverkehr mit ihr wollte - und sie das nicht wollte, so die Vorsitzende. Über seine sexuelle Motivation seien keine Fragen offen geblieben.
Das »völlige Ausmaß des Grauens« werde aber erst deutlich, wenn man das Verhalten des 30-Jährigen nach der Tötung Ayleens betrachte. Schon auf der Rückfahrt von dem See, in dem er die Leiche ablegte, habe er über sein Navi die Route zu einem anderen Mädchen herausgesucht - und kurz darauf ein Selbstbefriedigungsvideo erstellt und dem Mädchen geschrieben. Er sei also unmittelbar nach der Tat wieder im Chatmodus, mit der »Mädchen-Akquise« und seiner persönlichen Bedürfnisbefriedigung beschäftigt gewesen. Ein Erschrecken über die eigene Handlung habe es nicht gegeben.
Der Fall hatte auch ein Schlaglicht auf das sogenannte Cybergrooming geworfen, also die Anbahnung sexualisierter Kontakte mit Minderjährigen über das Internet. Die Vorsitzende sprach von einem »teuflischen Vorgehen« des Angeklagten. Er habe ohne jegliche Hemmung gehandelt, perfide und penetrant seine Chats geführt, seine Chatpartnerinnen manipuliert.
Bereits als Jugendlicher im Alter von 14 Jahren war der Mann wegen versuchter Vergewaltigung, versuchten Kindesmissbrauchs und gefährlicher Körperverletzung verurteilt und für rund zehn Jahre in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht worden. Schon nach jener Tat sei der Mann »völlig emotionslos« gewesen, ohne Scham und Reue, sagte Enders-Kunze. Er sei danach ins Freibad gegangen und habe sich den restlichen Nachmittag über dort vergnügt. Ein psychiatrischer Gutachter hatte während des Mordprozesses eine dissoziale Persönlichkeitsstörung mit psychopathischen Zügen bei ihm festgestellt. Zugleich hielt er ihn für voll schuldfähig und sah ein hohes Risiko, dass der 30-Jährige wieder töten könnte.
Enders-Kunze sprach von einer Fehlentwicklung der Persönlichkeit des Angeklagten, der nicht sozialisiert, früh verhaltensauffällig und durch erzieherische Maßnahmen nicht erreichbar gewesen sei. »Fremdes Leid spricht ihn nicht an«, über Folgen seines Handelns denke er nicht nach. Während des dreieinhalbmonatigen Prozesses sei auch deutlich geworden, dass sich die Familie Fragen stelle, etwa jene, ob sie die Tat vorhersehen oder verhindern hätte können. Sie hoffe aber, dass die Familie anhand des Bildes des Angeklagten erkenne, dass es Verhaltensweisen gibt, die man weder erkennen noch verhindern könne, sagte die Vorsitzende an die Mutter Ayleens gewandt, die zur Urteilsverkündung in den Gerichtssaal gekommen war.
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