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Angeklagt vom verhassten Staat: »Reichsbürger« vor Gericht

Ein Auto wird zur Seite gewunken, dann geht alles ganz schnell. Denn am Steuer soll ein angetrunkener sogenannter Reichsbürger gesessen haben. Er gibt Gas und fährt einen der Polizisten an. Nun sitzt er auf einer Stuttgarter Anklagebank. Eine Mischung aus Tränen und Trotz.

Beginn Prozess gegen einen mutmaßlichen »Reichsbürger«
Der angeklagte mutmaßliche »Reichsbürger« (3.v.l) spricht vor dem Beginn seines Prozesses mit seinem Anwalt (l). Foto: Bernd Weißbrod
Der angeklagte mutmaßliche »Reichsbürger« (3.v.l) spricht vor dem Beginn seines Prozesses mit seinem Anwalt (l).
Foto: Bernd Weißbrod

Da sitzt er. Bewacht von Polizisten, die er verachtet. Angeklagt von einer Justiz, die er nicht anerkennt. In einem Gericht des Staates, den er als illegal betrachtet. Da sitzt er am Montag im grell ausgeleuchteten Saal des Stuttgarter Oberlandesgerichts wegen einer aus Sicht der Bundesanwaltschaft kaltblütigen Autoattacke auf einen Polizisten. Der härteste Vorwurf: versuchter Mord.

Der 62-Jährige aus dem Schwarzwald ist der erste sogenannte Reichsbürger, der von der Bundesanwaltschaft vor Gericht angeklagt worden ist. Er soll im Rahmen einer dramatischen Verkehrskontrolle im vergangenen Februar im Kreis Lörrach versucht haben, einen Polizeibeamten zu ermorden. Mit seinem Auto, mit Absicht und ohne schlechtes Gewissen.

Der Schreiner aus Efringen-Kirchen (Kreis Lörrach) vertrete eine »Reichsbürger«-Ideologie, er bezeichne sich selbst als Angehöriger des Großherzogtums Baden, wirft ihm die Bundesanwaltschaft zum Auftakt des Prozesses am Montag vor. Der Mann betrachte sich als »außerhalb der geltenden Rechtsordnung stehend«, weil er die Existenz der Bundesrepublik Deutschland leugne und hoheitliche Befugnisse ihrer Repräsentanten nicht anerkenne. Polizisten sind für ihn nach seinen eigenen Angaben »Kombatanten, Terroristen, Partisanen«, wie die Staatsanwältin zitiert, die in Vertretung des Generalbundesanwalts die Anklage verliest.

»Aus dieser Gesinnung heraus« habe der Mann auch Gas gegeben, als er Anfang Februar bei der Verfolgungsjagd von der Polizei immer wieder abgebremst wurde, wieder anfuhr, entkommen konnte und erneut eingeholt wurde. Auch durch mehr als zwei Dutzend Schüsse auf seinen Wagen und von mehreren Streifenwagen war er nicht aufzuhalten gewesen, bis er schließlich laut Bundesanwaltschaft absichtlich auf einen aus dem Auto gestiegenen Beamten zuhielt und den Mann anfuhr. Der Beamte wurde schwer verletzt, er kann nicht mehr als Polizist arbeiten. »Es geht ihm sehr schlecht«, sagt der Verteidiger des Nebenklägers, Patrick Steiger aus Bad Säckingen.

Und der Angeklagte? Will sich zu den Vorwürfen und auch zu seiner politischen Einstellung zunächst nicht äußern. Anfangs kaum zu glauben, dass das der Mann sein soll, der damals am Steuer gesessen hatte. Mit tränenerstickter Stimme liest er seine detailliert ausformulierten Erinnerungen an eine aus seiner Sicht schwere und lieblose Kindheit und Jugend vor. Mangelnde Zuneigung habe er erfahren, unter einer angeschlagenen Gesundheit gelitten. »Es gab ein Verbot von fast allem, was ich wollte«, sagt er und schluchzt und schnäuzt sich immer wieder. »Aber mein Gerechtigkeits- und Wahrheitsempfinden blieb bis heute unerschütterlich«, führt er später weiter aus.

Die Schuld, das fällt auf, die Schuld tragen im Leben des passionierten Blasmusikers aus seiner Sicht immer die anderen. Die Eltern, die Chefs, der Arzt der Mutter, die er nach wie vor »meine Mutti« nennt, und natürlich der Staat. Repressalien habe er erdulden müssen, »gesellschaftlich, beruflich und privat«, sagt er. Tränen und Trotz.

Die hauptsächlich für Terror-Ermittlungen zuständige Bundesanwaltschaft hatte das Verfahren im Juni wegen der »besonderen Bedeutung des Falles« übernommen. Wenige Wochen später hatte Generalbundesanwalt Peter Frank angekündigt, er wolle Fälle aus der Szene in Zukunft häufiger an sich ziehen. Die Anhänger seien zunehmend gewaltbereit und setzten auch Schusswaffen ein.

Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) nannte die vorgeworfene Tat »absolut perfide und abscheulich«. Treten »Reichsbürger« auf, so erinnert das nach Einschätzung der Deutschen Polizeigewerkschaft mittlerweile an Einsätze, die man früher nur aus der Clan-, Rocker- und organisierten Kriminalität oder aber von Terroristen kannte. Die Bewegung habe mit den Corona- und Querdenkerprotesten einen Aufschwung erlebt, sagt der DPolG-Landesvorsitzende Ralf Kusterer. Verschwörungstheorien seien »ein Nährboden für die steigende Gewaltbereitschaft von Reichsbürgern«. Laut dem Verfassungsschutz gehören in Baden-Württemberg etwa 3300 Menschen dieser Szene an.

Mitteilung

© dpa-infocom, dpa:221114-99-512759/3