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Reutlinger Reichsbürger Teil eines gigantischen Verfahrens

Sie wollten laut Anklage mit einem Umsturz eine neue Ordnung schaffen, ein neues Deutschland: Die mutmaßlichen »Reichsbürger« um Prinz Reuß kommen nun vor Gericht. Ein Stück Justizgeschichte beginnt.

Fahrzeuge der Polizei stehen am Einsatzort bei der »Reichsbürger«-Razzia in Reutlingen.
Fahrzeuge der Polizei stehen am Einsatzort bei der »Reichsbürger«-Razzia in Reutlingen. Foto: Julian Rettig/dpa
Fahrzeuge der Polizei stehen am Einsatzort bei der »Reichsbürger«-Razzia in Reutlingen.
Foto: Julian Rettig/dpa

STUTTGART. Es ist Stoff, so unglaublich, dass er eigentlich nur für Filme taugt: Gewaltbereite Männer, Ex-Soldaten, eine Politikerin, ein Prinz, vereint durch den Hass auf die staatliche Ordnung, die sich Hunderte Waffen besorgen, Feindeslisten entwerfen, den Reichstag stürmen und die Bundesrepublik stürzen wollen. So lauten die Vorwürfe gegen die mutmaßlichen »Reichsbürger« um Heinrich XIII. Prinz Reuß.

Kommende Woche beginnt in Stuttgart der erste Prozess gegen die Gruppe. Im streng gesicherten Saal des Oberlandesgerichts Stuttgart in Stammheim, da, wo sich einst die Mitglieder der RAF-Terrorgruppe verantworten mussten, wird so erneut Justizgeschichte geschrieben. »Das ist eines der größten Staatsschutzverfahren in der Geschichte der Bundesrepublik«, meint der Präsident des Oberlandesgerichts, Andreas Singer.

Rückschau: Im Dezember 2022 stürmen Polizisten in mehreren Bundesländern und im Ausland Wohnungen und Häuser. Mutmaßliche »Reichsbürger« um Prinz Reuß sollen einen gewaltsamen Umsturz in Deutschland geplant haben. Ergebnis der großangelegten Anti-Terror-Razzia: Anklage der Bundesanwaltschaft gegen 27 Verdächtige. Der Vorwurf: Sie wollten die bestehende staatliche Ordnung in Deutschland gewaltsam beseitigen und sie durch eine eigene, bereits in Grundzügen ausgearbeitete Staatsform ersetzen. 

Die Gruppe soll Zugriff auf ein massives Waffenarsenal gehabt und bei den Umsturzplänen bewusst Tote in Kauf genommen haben. Als Staatsoberhaupt hätte Heinrich XIII. Prinz Reuß fungieren sollen. Die ehemalige Berliner Richterin und frühere AfD-Bundestagsabgeordnete Birgit Malsack-Winkemann hätte für das Ressort Justiz zuständig sein sollen. Auch ein Soldat des Kommandos Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr gehört zu den Beschuldigten.

Ein Oberlandesgericht allein zu klein

Eine Übergangsregierung hätte mit den alliierten Siegermächten des Zweiten Weltkriegs eine neue staatliche Ordnung in Deutschland verhandeln sollen. Denn: Sogenannte Reichsbürger behaupten, dass das Deutsche Reich (1871-1945) weiter existiert, daher auch der Name. Die Bundesrepublik und ihre Gesetze erkennen sie nicht an.

Der Fall um Prinz Reuß ist so groß, dass ein Oberlandesgericht gar nicht ausreicht. »Wir wollen nicht in irgendeiner Turnhalle einen Schauprozess abziehen, sondern müssen uns mit den Individuen auseinandersetzen«, erklärt OLG-Präsident Singer. Deshalb werden die Beschuldigten auf drei Hauptverfahren aufgeteilt. In Stuttgart geht es um den sogenannten militärischen Arm, in Frankfurt sind ab 21. Mai die mutmaßlichen Rädelsführer angeklagt, in München ab 18. Juni die übrigen mutmaßlichen Mitglieder. »Dass sich drei Oberlandesgerichte parallel mit ein und derselben terroristischen Vereinigung befassen, die noch gar nicht gerichtlich festgestellt wurde, ist außergewöhnlich«, sagt Singer. 

Die Verhandlungen dürften komplex und aufwendig werden. Angeklagte in einem Verfahren können als Zeugen in anderen Verfahren geladen werden. Jedes Gericht muss seine eigenen Beweise erheben und zu seinem eigenen Urteil kommen. Grundsätzlich seien am Ende auch sich widersprechende Urteile möglich, sagt Singer - wobei Beobachter dies für unwahrscheinlich halten. Die Erwartung ist, dass die Bundesanwaltschaft als Anklagebehörde den Überblick be- und die Fäden zusammenhält. Der Generalbundesanwalt sei das Bindeglied, die Klammer, so Gerichtspräsident Singer. 

Allein der Prozess in Stuttgart hat Dimensionen, die die Kapazitäten der meisten Gerichte sprengen würden: Neun Angeklagte, fünf Richter, zwei Ergänzungsrichter als Ersatzspieler, und nicht weniger als 22 Verteidiger. Dazu strengste Sicherheitsvorkehrungen: Die Angeklagten sitzen hinter dicken Glasscheiben, per Mikrofon können sie mit ihren Verteidigern sprechen. Singer berichtet von insgesamt 400 000 Blatt Ermittlungsakten um die Reuß-Gruppe, die 700 Leitz-Ordner füllen.

Geplante Machtübernahme mit Waffengewalt

Die in Stuttgart Angeklagten sollen sich im Jahr 2022 der Vereinigung angeschlossen und sich für den »militärischen Arm« engagiert haben. Dieser habe die geplante Machtübernahme mit Waffengewalt durchsetzen sollen. Dazu sei schon mit dem Aufbau eines deutschlandweiten Systems von mehr als 280 militärisch organisierten Verbänden, sogenannten Heimatschutzkompanien, begonnen worden. Die »Heimatschutzkompanie Nr. 221« soll für den Bereich der Gebiete Freudenstadt und Tübingen zuständig gewesen sein.  

Wichtig: Für Beschuldigte gilt bis zu einem etwaigen Urteil die Unschuldsvermutung. Trotzdem macht Gerichtspräsident Singer im Vorfeld deutlich: »Das sind keine netten Onkel, die irgendwelche komischen Ideen hatten.« Die wachsende Zahl an Anklagen gegen Reichsbürger und Rechtsextreme sei Teil einer besorgniserregenden gesellschaftlichen Entwicklung.

22. März 2023, Ringelbach-Gebiet in Reutlingen: Einsatz eines Roboters,  der im Zusammenhang mit Sprengstoff eingesetzt wird. Zu
22. März 2023, Ringelbach-Gebiet in Reutlingen: Einsatz eines Roboters, der im Zusammenhang mit Sprengstoff eingesetzt wird. Zuvor hatte Reichsbürger Markus L. das Feuer auf Polizisten des SEK eröffnet. Foto: Steffen Schanz
22. März 2023, Ringelbach-Gebiet in Reutlingen: Einsatz eines Roboters, der im Zusammenhang mit Sprengstoff eingesetzt wird. Zuvor hatte Reichsbürger Markus L. das Feuer auf Polizisten des SEK eröffnet.
Foto: Steffen Schanz

Das zeigen auch die Schüsse von Reutlingen, denen sich das Stuttgarter Gericht zu Beginn des Prozesses widmen will: Unter den Angeklagten ist nämlich auch der Mann, der am 22. März 2023 bei der Durchsuchung seiner Wohnung mehrfach mit einem halbautomatischen Schnellfeuergewehr auf Polizisten eines Spezialeinsatz­kommandos geschossen und dadurch zwei Beamte verletzt haben soll. (dpa)