BUENOS AIRES/REUTLINGEN. Die Fußball-Welt lag ihm zu Füßen. Und seine argentinischen Fans verehrten ihn lebenslang gottgleich trotz aller Eskapaden, die er sich in seinem Leben leistete. Niemand im internationalen Fußball stieg so hoch und fiel so tief wie er. Und kaum einer faszinierte die Welt mit seinem Spiel wie Diego Armando Maradona. Die »Hand Gottes« ist am Mittwoch vier Wochen nach seinem 60. Geburtstag gestorben. Sein Lebenswandel ließ es fast erwarten.
Erst kürzlich hatte der »Goldjunge« einen Krankenhaus-Aufenthalt überstanden. Die Fußball-Welt trauert, Argentinien weint. Wie er seine Gegenspieler narrte, wie er mit einem Luftgewehr auf Journalisten schoss oder eine Kirche nach ihm benannt wurde? Sein Name steht für ein Leben zwischen den Extremen, zwischen Himmel und Hölle, zwischen Genie und Wahnsinn.
Die Hand Gottes
Wer ihn persönlich erlebte, vergisst ihn vermutlich nie. Ein Interviewtermin anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft 1990 wurde zu einem Erlebnis. Nach dem Training habe er nur ganz kurz Zeit, ließ sein Management im Trainingslager wissen. Als er vom Trainingsplatz kam, die Fußballschuhe offen und einen Tennisball in der Hand, ließ er sich mürrisch auf die ersten Fragen ein. Dann jonglierte Maradona mit offenen Fußballschuhen den Tennisball in einer Art und Weise, die mich alle Fragen vergessen ließ. Als er meine bewunderndes Zögern bemerkte, taute er auf. Wir haben geredet, über vieles gesprochen, es hatte auch nicht alles mit Fußball zu tun. Es hat gedauert, viel länger als die vom Management erlaubten Minuten.
WM-Finale gegen Deutschland
Es gab noch eine Begegnung mit ihm. Vier Jahre später fand die Weltmeisterschaft in den Vereinigten Staaten statt. Maradona sah anders aus, gezeichnet von Drogenkonsum, aber immer noch gefeierter Nationalspieler. Im Grunde damals schon eine Karikatur seiner selbst. Und die Begegnung bestand auch nur aus einem Blickkontakt. Weil sie Maradona nach einem positiven Dopingtest von der Öffentlichkeit abschirmten, aus dem Quartier wegbrachten. Fragen gab es ohnehin keine mehr. Maradona war als Fußballspieler am Ende.
Das Ende Maradonas war es aber nicht. Es war der erneute Auftakt zu einer Berg- und Talfahrt, die nur solche Menschen erleben, die mit dem Liebesentzug nicht fertigwerden. Die das verloren haben, was sie unnachahmlich beherrschten. Maradona erhob den Fußball zur Kunst. Selbst die Künstler, die das auch beherrschten, Edson Arantes di Nascimento oder Franz Beckenbauer, Pelé und der »Kaiser«, sprachen mit Hochachtung von dem Argentinier.
Dass er mit dem Leben nach dem Fußball nicht klar kam, hatte auch damit zu tun, dass er sein Leben lang mit einer Entourage umgeben war, die sich vorwiegend für ihre eigenen Interessen interessierten und Maradona ausnutzten. Und es gab immer zu wenige, die ihn daran erinnerten.
Maradona war am 11. November, gut eine Woche nach der Operation wegen einer Hirnblutung, aus einem Krankenhaus in einem Vorort von Buenos Aires entlassen worden. Beim einstigen Superstar war zunächst von emotionalem Stress, Blutarmut und Dehydrierung die Rede. Bei den Tests wurde dann eine Blutung zwischen harter Hirnhaut und Gehirn festgestellt. Maradona habe den schwierigsten Moment seines Lebens überstanden, sagte sein Anwalt Matías Morla, und er sei gewillt, sich zu rehabilitieren: »Es wird Maradona noch eine Weile geben.«
Im September 2019 übernahm Maradona den Trainerposten beim Erstligisten Gimnasia y Esgrima La Plata. Auf Instagram zeigte er sich mit einem kleinen Hund auf dem Arm, mit einer Taktiktafel im Garten, auf den Fotos sieht Maradona schlank und gesund aus, einmal trug er sogar eine modische Brille. Die Botschaft: Es geht ihm gut. »Man muss anmerken, dass er seine Lebenskrise, die da entstanden ist nach dem Fußball, anscheinend gemeistert hat«, sagte Günter Netzer kurz vor Maradonas 60. Geburtstag am 30. Oktober.
Für Netzer ist Maradona ein Mythos geblieben. Die Legende beginnt in der Siedlung Villa Fiorito am Rande von Buenos Aires, wo er vom Erstligisten Argentinos Juniors entdeckt wird. Als Balljunge soll er den Zuschauern mit seinen Kabinettstückchen in der Halbzeitpause mehr Unterhaltung als die erste Mannschaft geboten haben. Ob er der neue Pelé ist, wollen argentinische Reporter damals wissen. »Ich bin Maradona, kein neuer Irgendwas. Ich will einfach nur Maradona sein«, antwortet »Diegito«.
1982 wechselt Maradona für eine Rekordablösesumme zum FC Barcelona, zum Halbgott steigt er aber erst zwei Jahre später auf. Für eine weitere Rekordablöse geht er zum SSC Neapel, bei seiner Begrüßung empfangen ihn mehr als 70 000 Fans im Stadio San Paolo. Mit Argentinien wird er 1986 Weltmeister, 1989 gewinnt er mit Neapel den Uefa-Pokal, abseits des Platzes verfällt er dem Kokain.
Das Jahrhunderttor
Ein Leben auf der Überholspur, zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. In Argentiniern es ein Maradona-Museum, ein Maradona-Musical, eine Maradona-Kirche, in der das »Diego Unser« gebetet wird. Nach seiner Fußballkarriere suchte Maradona die Nähe zu den linken Caudillos Lateinamerikas, zeigt sich an der Seite von Fidel Castro, Hugo Chávez oder Nicolás Maduro.
»Diego hatte ein Leben wie ein Traum. Und wie ein Alptraum«, sagt sein langjähriger Fitnesstrainer Fernando Signorini. Unvergessen die »Hand Gottes«, mit der er bei der Weltmeisterschaft 1986 gegen England getroffen hatte, oder sein Jahrhunderttor nach einem einmaligen Dribbling – auch gegen England.
»Er lebt jeden Moment, als wäre es sein letzter«, sagt Signorini. »Wenn Diego einmal nicht mehr da ist, wird er noch mehr geliebt werden.«
Der Moment ist gekommen. (GEA)