Logo
Aktuell Zeitung macht Schule

»Wer flieht, den erschießt man auf der Flucht«

Hermann Schmidt wurde 1927 in Siebenbürgen geboren. Als er 17 Jahre alt war, mitten im Zweiten Weltkrieg, wurde er zur Zwangsarbeit in ein Lager nach Russland gebracht. Weil er Angst hatte, das nicht zu überleben, entschied er sich zu fliehen und legte die 1 400 Kilometer lange Strecke nach Siebenbürgen in tage- und nächtelangen Fußmärschen und als blinder Passagier mit dem Zug zurück - immer in der Angst, wieder gefangen und ins Lager zurückgeschickt zu werden. Als er wieder zu Hause war, veränderten sich die Lebensbedingungen der Deutschen in Rumänien so stark, dass er beschloss, nach Deutschland zu fliehen. Über Ungarn und Österreich, wo er vier Jahre als Hilfsarbeiter gearbeitet hat, kam er schließlich nach Deutschland, weil dort Lehrer gesucht wurden. Seine Enkelin Hannah Schmidt und Carla Olbrich und haben ihn zu seinen Erlebnissen befragt

Mit 17 wurde Hermann Schmidt verschleppt.Hermann Schmidt musste in einem russischen Gefangenenlager leben - bis er den Entschlus
Mit 17 wurde Hermann Schmidt verschleppt.Hermann Schmidt musste in einem russischen Gefangenenlager leben - bis er den Entschluss fasste, die Flucht zu wagen. Foto: dpa
Mit 17 wurde Hermann Schmidt verschleppt.Hermann Schmidt musste in einem russischen Gefangenenlager leben - bis er den Entschluss fasste, die Flucht zu wagen.
Foto: dpa
ZmS: Warum wurdest Du aus Siebenbürgen nach Russland verschleppt?

Hermann Schmidt: 1944, also mitten im Krieg, hatte Rumänien, das Land, in dem ich bis dahin gelebt hatte, die Fronten gewechselt von den Deutschen weg zu den Alliierten. Damit wurden wir zu denjenigen gestempelt, die eigentlich die Nazis unterstützt hatten. Wir waren eine Minderheit, etwa 800 000 Deutsche, und alle deutschen arbeitsfähigen Männer von 17 bis 45 und die Frauen von 18 bis 35 Jahren wurden verschleppt.

Wie bist Du ins Lager gekommen? Wusstet Ihr, wo Ihr hingebracht werdet?

Schmidt: Wir wurden von der Straße, aus den Familien, zu Bahnhöfen geschafft und in Viehwaggons, in Güterzüge verladen. Es war im Winter, ich selbst bin am 17./18. Januar verladen worden, von Hermannstadt aus, einer bedeutenden Stadt in Siebenbürgen. Wir konnten durch die Fenster, die Luken, sehen, wo wir entlangfuhren: Kronstadt, die Karpaten, Plojest. Dann hörte es auf, denn die kyrillischen Buchstaben kannte kaum jemand. Wir wussten nicht, durch welche Städte wir fuhren. Damals bin ich dann in das Kohlenrevier Donbass gekommen.

Welche Arbeit musstet Ihr verrichten und wie habt Ihr im Lager gelebt?

Schmidt: Wir sind verpflichtet worden, im Kohlebergwerk zu arbeiten. Gelebt haben wir in Steinbaracken mit Fenstern ohne Glas. Die ersten Nächte hatten wir minus 20, minus 25 Grad. Und als ich dann zur Arbeit ging im Februar, hatten wir sogar minus 34 Grad. Eine wahnsinnige Kälte war das.

Was habt Ihr zu essen bekommen?

Schmidt: Es gab für die, die im Schacht arbeiteten, ein Kilo schwarzes, schweres Brot. Das haben wir jungen Kerle mit 17 auf einmal am Abend gegessen. Tags darauf haben wir nichts gehabt. Nichts weiter außer dieser Suppe. Das war eigentlich warmes Wasser mit Gurkenwürfeln, kaum Fettaugen drauf. Wer nichts mehr hatte, der musste versuchen, auf dem Schwarzmarkt Kleidung zu verkaufen. Auf diesem Wege haben wir versucht, uns über Wasser zu halten.

Wo habt Ihr im Lager geschlafen?

Schmidt: Die Unterbringung war schauderhaft. Auf Brettern sind wir gelegen, bis wir merkten, dass wir an den Hüften wund wurden. Dann erst hat es Stroh gegeben. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir Strohsäcke hatten, ich bin eigentlich auf meinem Wintermantel gelegen die ganze Zeit dort.

Hattest Du von Anfang an vor zu fliehen?

Schmidt: Ja. Es hing wahrscheinlich auch damit zusammen, dass ich magenkrank war und befürchtete, dass ich dort, wie wir damals sagten, sowieso vor die Hunde gehe. Also hatte ich mit einem Unteroffizier der deutschen Wehrmacht, der mit uns Zivilisten aus Hermannstadt verschleppt worden war, gesprochen. Der wollte auch fliehen. Nun schien es mir nicht ratsam, uns nur zu zweit aufzumachen. So habe ich auch mit Erwin Thalmann, meinem Klassenfreund, gesprochen. Wir waren bereit und haben uns eingestellt auf die Flucht, die wir für den 20. Juni 1945 festgesetzt hatten und tatsächlich auch angetreten haben.

Wie lange wart Ihr unterwegs und was hast Du erlebt?

Schmidt: Wir hatten Glück, gut aus dem Lager wegzukommen. Wir sind nur nachts marschiert, weil wir fürchteten, dass man uns, wenn wir tagsüber gehen, entdeckt. Wir sind keine Straßen marschiert, sondern querfeldein. Wir haben Ortschaften umgangen, die wir am Hundegebell erkannten. Sobald es in der Früh hell wurde, haben wir uns ein Versteck gesucht. Dann ist uns aber das, was wir an Essen hatten mitnehmen können, ausgegangen. Wir mussten schauen, dass wir irgendwas kriegen. Der Max kannte sich aus. Er sagte, da sind Keller in den Erdboden gegraben neben den Häusern. Und ist hinabgestiegen und hat aus dem ersten Keller eigentlich nur so eine Schüssel geholt. Es war gestandene Milch drin, also Sauermilch. Die haben wir getrunken. Das war natürlich ganz schlecht. Wir hatten ja nichts im Magen und bekamen Durchfall. In der nächsten Nacht haben wir es nochmal probiert. Aber man hat uns erwischt und gestellt. Als wir wegliefen, wurden wir versprengt und ich war von dort an allein. Ich habe mich an einer Bahnlinie entschieden, mit dem Zug zu fahren. Während des Krieges lernt man allerhand - auch, in überfüllte Züge einzusteigen und aufs Dach zu kriechen. An einem Bahnhof - im Magen war schon tagelangs nichts - trank ich Wasser und bin danach einfach umgekippt, eine russische Miliz hat mich mit Fußtritten geweckt. Damit war ich wieder gefangen. Die haben mich nach Odessa gebracht. Dort gab es eine Gerichtsverhandlung. Ich wurde in ein Militärlager eingeliefert, aber der Hauptmann dort wollte mich nicht. So wurde ich in ein Zivilgefangenenlager gebracht. Dort hat man Freiwillige gesucht, die in der Landwirtschaft helfen. Da habe ich mich gemeldet und am ersten Tag, nachdem wir zugeteilt wurden, Reißaus genommen. Dann sind wir, ich und zwei andere, zwei Nächte unterwegs gewesen bis an den Dnjestr, einen großen Fluss, der früher die rumänische Grenze bildete. Dort erfuhr ich, die Grenze ist nicht da, die ist jetzt am Pruth. Wir sind dann noch fünf Tage lang marschiert. Dann stellte sich heraus, dass einer meiner Begleiter nicht schwimmen konnte. Es blieb nichts anderes übrig, als uns von ihm zu verabschieden. Wir sind durch den Pruth geschwommen. Auf der rumänischen Seite sind wir an einem Bahnhof angekommen. Da habe ich mich erkundigt, wann ein Zug auf Plojest, also auf die Kronstädter Linie, meine Heimat zu, geht. Am 31. Juli 1945 bin ich nachts zu Hause angekommen. Dort musste ich mich aber versteckt halten, das durfte niemand erfahren. Denn die Gefahr bestand, dass man mich wieder schnappt und zurückschafft.

»Auf Brettern sind wir gelegen, bis wir an den Hüften wund wurden«
Wusstest Du, was passiert, wenn Du auf der Flucht erwischt wirst?

Schmidt: Im Lager hat es geheißen, weil es schon Etliche versucht hatten: Wer flieht, den erschießt man auf der Flucht oder wenn man ihn geschnappt hat. Das war schon eine gefährliche Sache, nicht einfach so ein Spaziergang. Es sind auch nur wenige durchgekommen.

Was war mit Deiner Familie, während Du nicht da warst? Gab es da vielleicht noch welche, die auch verschleppt wurden?

Schmidt: Als ich aus Russland zurückkam, wusste ich nicht, ob jetzt alle Deutschen, die dort in diesen Dörfern wohnten, auch irgendwohin verschleppt worden sind, oder ob die noch zu Hause sind. Beim letzten Teil der Flucht aus Odessa war ich barfuß unterwegs.

Wie lange bist Du barfuß gelaufen?

Schmidt: Sieben Tage, acht Tage zu Fuß, auch querfeldein. Weil mir die wunden Füße weh taten, bin ich nicht den Weg, den wir sonst als kürzeren Weg gewählt hatten - die Bahnstrecke entlang, über die Wiesen hinauf zur Dienstwohnung meines Vaters, der Schuldirektor war - sondern mitten durch die Gemeinde. Da waren die Straßen ja nicht geteert, und da war Staub, der angenehm war. Ich ging mitten auf der Straße und bin bis heute überrascht: Bis ich dort am Haus war, wo meine Eltern wohnten, hat kein Hund angeschlagen, überhaupt nichts, keine Menschenseele. Das Tor war abgesperrt, ich habe an den Fensterladen geklopft. Noch einmal, es hat sich nichts gerührt. Also habe ich mich mit dem Fuß abgestemmt und den Laden aufgebrochen. Und auf einmal sehe ich meinen Vater dort stehen. So hatte ich wenigstens die Gewissheit, dass meine Eltern zu Hause sind und dass ich mich versteckt dort aufhalten konnte, bis man dann nach drei Wochen meinen Vater auch verschleppt hat. Es gab immer wieder solche Razzien. Die Menschen hatten keine Rechte, es herrschte Willkür. Die deutsche Minderheit war Verfolgungen ausgesetzt, man hat ihr die ganze Schuld zugeschoben. Wir waren etwa 800 000 bei einem Volk von 20 Millionen. Wie wehrt sich eine Minderheit, wenn der Staat hinter der Verfolgung steht? Ich versuche da immer, mit mir ins Reine zu kommen. Es war eine harte Zeit. Erst als ich da raus war, in Österreich zuerst und dann in Deutschland, habe ich erfahren, was hier mit dem Holocaust gelaufen ist. Das war deshalb noch viel furchtbarer als das, was wir erlebt haben, weil in Deutschland diese Minderheit, die Juden, verfolgt worden sind mit dem Ziel, sie zu ermorden. Das war nicht das Ziel der Sowjetmacht, die uns verschleppt hatte: deren Ziel war es, unsere Arbeitskraft zu nützen. Das ist ein sehr wichtiger Unterschied. Die Verschleppung war für mich auch eine Existenzfrage. Ich hatte mich entschieden und habe mir gesagt: Sterben kann ich hier wie auf der Flucht. Ich entscheide mich für die Flucht, und wenn es geglückt ist, ist es halb so schlimm. Aber unterwegs war man schon manchmal der Verzweiflung nahe, wenn du dann tagelang nichts zu essen hast. Aber du weißt, du musst weiter, jetzt hast du den Weg eingeschlagen ...

Und was hast Du dann gemacht, bis du nach Österreich geflohen bist?

Schmidt: Für mich überraschend war, dass die deutschen Schulen nach 1945 das Öffentlichkeitsrecht wieder erhalten hatten. Ich konnte also die Lehrerbildungsanstalt weiterhin besuchen. Trotzdem hatten die Deutschen in Rumänien nach dem Krieg keine Rechte mehr. Ich dachte immer wieder daran, abzuhauen. Im Dezember 1947 bin ich weg aus Rumänien über die rumänisch-ungarische, ungarisch-österreichische Grenze und dann noch über die Demarkationslinie. Das ist diese Grenze, die zwischen der russischen Besatzungszone und der amerikanischen Besatzungszone in Österreich verlief.

Welche Schule hast Du in Deiner Heimat besucht?

Schmidt: Ich war an einer deutschen Schule. Mit Rumänen habe ich höchst selten zu tun gehabt. Die Deutschen haben für sich gelebt, so wie die Jahrhunderte vorher auch. 1140, 1200, im 13. und 14. Jahrhundert bis ins 19. Jahrhundert waren wir für uns mit unseren eigenen Rechten und Regeln. Deutsche Schulen haben den Kommunismus bis heute überdauert. Inzwischen aber sind die Deutschen, die meisten Siebenbürger Sachsen, ausgewandert. Es leben vielleicht noch 30 000, 40 000 Siebenbürger, insgesamt etwa 100 000 Deutsche dort. Die deutschen Schulen werden heute zu 95 Prozent von rumänischen Kindern besucht.

Wie war Dein Leben zu Hause?

Schmidt: Aufgewachsen bin ich mit vier Geschwistern. Die Ferien verbrachten wir zu Hause und mussten in der Landwirtschaft helfen. Aber wir sind auch ins Gebirge gegangen, in die Karpaten oder zum Großvater, der Pfarrer war in einem kleinen Dorf. Das war die schönste Zeit, da haben die Erwachsenen keine Zeit gehabt, auf uns Kinder achtzugeben, da konnten wir dann die Freiheit genießen.

Was hat Dich dann nach Mössingen geführt? Du hast ja schon erzählt, dass Du von Deiner Heimat dann noch weiter geflohen bist ...

Schmidt: ... genau, und 1947 in Österreich gelandet bin. Als Lehrer konnte ich nicht unterkommen, weil ich nicht Staatsangehöriger war. So habe ich die Zeit zuerst als Hilfsarbeiter in den Eisenwerken zugebracht, später arbeitete ich bei den Amerikanern als Kraftfahrer. Dann erfuhr ich, dass in Südwürttemberg-Hohenzollern Lehrermangel herrscht. Ich habe mich aufs Fahrrad gesetzt und bin von Linz über München nach Stuttgart gefahren. Am Oberschulamt Tübingen habe ich vorgesprochen. Nach drei Wochen - inzwischen hatte ich als Hilfsarbeiter am Bau in Stuttgart eine Arbeit angenommen - bekam ich eine Postkarte, auf der stand: »Lieber Herr Schmidt, Sie werden demnächst eingestellt«. Ich habe mich in Reutlingen gemeldet und kam als Aushilfslehrer nach Kleinengstingen. Ich musste noch weiter Pädagogik studieren, sodass ich 1955 Lehrer war. Dann kam ich nach Mössingen, das war meine erste Stelle. Dort bin ich geblieben.

Beeinflussen die Erlebnisse von früher heute noch Dein Leben?

Schmidt: Ich habe lange geträumt, dass ich mich auf der Flucht befunden habe. Das war über zehn, zwölf Jahre danach noch so, ich war traumatisiert. Das hat sich erst gelöst, nachdem ich meine Erlebnisse in einem Buch »Vom Alt zur Alb« niedergeschrieben habe. Da bin ich erst frei geworden.

Wann hast Du das geschrieben?

Schmidt: 2006 ist das Buch herausgekommen. Jetzt kann ich darüber sprechen, ohne dass mich das emotional noch berührt. Ich meine, wenn ich mich vertiefe in die Gedanken vielleicht schon, aber ich bin eigentlich frei. Das hat zu einer Lösung geführt.

Bist Du später noch einmal zurückgekehrt in Deine Heimat?

Schmidt: In die Heimat konnte ich nicht, weil ich von dort geflohen war. Für solche, wenn man deren habhaft wurde, gab es Gefängnis. Ich habe mich also davor gehütet. Erst 25 Jahre nach meiner Flucht bin ich mit der Familie hinunter. Interessiert bin ich, ich arbeite aktiv an der Schulgeschichte beim Landeskundeverein. Ich beziehe auch die Siebenbürgische Zeitung, aber ich kann mit dem, was da mit den Vertriebenen immer wieder an Politik gemacht wurde, nichts anfangen. Ich kann mich nicht ereifern an der Rückgewinnung früheren deutschen Gebietes, das ist für mich vorbei. (ZmS)